Das seit 1946 stattfindende Musikfest „Prager Frühling“ wird zum Namensgeber des liberalen Kurses in der ČSSR. Das international angelegte Fest klassischer Musik bemüht sich von Anfang an um Weltoffenheit. Spätestens seit 1964 verkörpert es unmittelbar einen Aufbruch und Neuanfang, denn jetzt ist auch kulturpolitischer Raum für neue tschechische Musik.
Seit 1963 verwenden westliche Medien den Begriff im doppelten Sinne und beziehen sich dabei auf die neuen kulturpolitischen Impulse durch die Kafka-Konferenz 1963, die ebenfalls im Frühjahr stattfand.
Anfang 1968 wird Novotný entmachtet. Im Januar wird zunächst Alexander Dubček (r.) neuer Parteichef und im März löst Ludvík Svoboda (l.) den alten Staatspräsident ab. Daneben wird die Regierung umgebaut. Die Reformer können sich gegenüber den Altkadern durchsetzen.
Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung ist eine Teilamnestie für politische Gefangene und die Einstellung der Strafverfolgung für „Republikflüchtlinge“.
Die neuen Verhältnisse im Nachbarland locken tausende DDR-Touristen an, die sich hier mit Druckerzeugnissen und Schallplatten aus dem Westen eindecken.
Am 5. April beschließt die KPČ das Aktionsprogramm „Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus“. Darin geht es um den komplexen Übergang vom Sozialismus sowjetischen Typs zum demokratischen Sozialismus.
Quelle: archive.org
Im März 1968 wird die Zensur abgeschafft. Jetzt heißt es selbst „Schlange stehen“ vor Zeitungskiosken. Es setzt ein öffentlicher Diskurs in der Gesellschaft ein.
Am 24. April kommt der Dokumentarfilm „Čas ktory zijeme“ („Die Zeit, in der wir leben“) des slowakischen Regisseurs Vlado Kubenko in die Kinos. Der Film dokumentiert die ersten Monate des Jahres 1968. Die Filmemacher schaffen ein Porträt der Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Menschen zu Beginn des „Prager Frühlings“.
Ein Jahr später wird der Film verboten.
„Der Fehler lag bei Novotný.“
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„Wir stießen nur auf taube Ohren.“
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Eduard Goldstücker: „Kein antislowakisches Denken“
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Gustav Husák: „Die Meinung des Volkes wird gefragt sein.“
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Prudy: “Wahrheit und Lüge“
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Zu heftigen Diskussionen führt das am 27. Juni veröffentlichte „Manifest der 2000 Worte“ des Schriftstellers Ludvík Vaculík. Darin übt er scharfe Kritik an der alten Funktionärsriege und fordert eine rasche Liberalisierung. 40.000 Menschen unterzeichnen den Aufruf. In der Folge wird nun auch offen die führende Rolle der KPČ in Frage gestellt.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Nach der Invasion kursiert der bittere Witz: „Gegen jedes der 2000 Worte haben sie einen Panzer geschickt!“
„Dubček – Halten Sie durch“
Čierná nad Tisou, 29.7.1968 | Quelle: ČTK
Sozialistisches Tribunal: | |
23.3. Dresden: | In dem bis zuletzt geheim gehaltenen Treffen der Parteichefs der Sowjetunion, der DDR, Polens, Ungarns, Bulgariens und der ČSSR wird die Möglichkeit einer militärischen Lösung angedacht: Es werden „konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Warschauer Vertrages und seiner Streitkräfte“ angekündigt. |
8.5. Moskau: | Unter Ausschluss der Tschechoslowakei trifft sich die Führungsspitze der Sowjetunion, der DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens („Warschauer Fünf“). Die Möglichkeit einer militärischen Intervention wird ab jetzt real. Mit „Zustimmung“ Dubčeks wird ein gemeinsames Militärmanöver in der ČSSR vereinbart. |
20.-30.6. Militärmanöver „Šumava“: | Offiziell sollen militärische Defensivstrategien der Armeen des Warschauer Paktes geübt werden. Anzunehmen ist jedoch, dass es um praktische Übungen einer militärischen Intervention geht. Die sowjetischen Streitkräfte bleiben bis zum 3. August auf tschechoslowakischem Boden. |
15.7. Warschau: | Nach einem Treffen – wiederrum unter Ausschluss der ČSSR – richtet die Koalition eine eindeutige Drohung in Richtung Prag. In einem Brief an die KPČ-Führung spricht sie von „Konterrevolution“ und nimmt sich das Recht zur Einmischung heraus. |
29.7. Čierná nad Tisou: | In dem bilateralen Treffen zwischen Dubček und Breschnew an der slowakisch-sowjetischen Grenze fordert die sowjetische Seite die Wiederherstellung der alten Machtstrukturen in der tschechoslowakischen Gesellschaft. |
3.8. Bratislava: | Die KPČ wird gezwungen mit den „Warschauer Fünf“ eine gemeinsame Position zu unterschreiben. Damit soll Einigkeit demonstriert werden. Gleichzeitig haben sich die „Warschauer Fünf“ eine Grundlage für eventuelle Sanktionen bei Nichteinhaltung geschaffen. |
18.8. Moskau: | Auf einem geheimen Treffen beschließen die „Warschauer Fünf“ die Invasion für die Nacht vom 20. auf den 21. August zur Wiederherstellung des kommunistischen Machtmonopols. |
Sowjetische Truppen landen kurz vor Mitternacht auf dem Flugplatz von Prag, gleichzeitig überschreiten sowjetische, polnische, ungarische und bulgarische Truppen die Grenzen und besetzen innerhalb von 36 Stunden das gesamte Land.
Panzersperre | Quelle: ABL / B. Steven"
Sofort nach der Besetzung werden Dubček und das gesamte Präsidium der KPČ verhaftet und nach Moskau geflogen. Die Sowjets versuchen, eine eigene Regierung zu installieren. Die KPČ beruft daraufhin am 22. August einen außerordentlichen Parteitag ein, der den Abzug der Besatzungstruppen und die Freilassung der gefangen gehaltenen Parteiführer fordert. Obwohl über sein Schicksal nichts bekannt ist, wird Dubček mit überwältigender Mehrheit als Parteichef bestätigt.
Strassenbahn mit Aufschrift Dubcek | Quelle: ABL / B. Steven
Am dritten Tag der Besetzung fliegt Staatspräsident Svoboda in die Sowjetunion, um direkte Gespräche aufzunehmen. Die gefangen gesetzten Regierungsmitglieder werden auf Bemühen Svobodas zu den Verhandlungen hinzugezogen. Isoliert von der Bevölkerung, ohne Informationen über die Geschehnisse in ihrem Land und einem gewaltigen Druck durch die Sowjetunion ausgesetzt, stimmen Dubček und die anderen Regierungsmitglieder nach viertägigen Verhandlungen am 26. August dem "Moskauer Protokoll" zu. Darin akzeptieren sie die Absetzung einiger der Regierungsmitglieder, darunter Ota Šik, und verpflichten sich, ihren Widerstand aufzugeben und für Ruhe und Ordnung im Land zu sorgen. Im Gegenzug erkennt Moskau Teile des Reformprogramms und die Regierung Dubček an. Außerdem verpflichtet sich die Sowjetunion zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei. Das Abkommen legalisiert im Nachhinein die Invasion.
Die sowjetischen Zugeständnisse werden in der Folgezeit zurückgenommen. Dubček wird im Jahr darauf entmachtet und als Botschafter in die Türkei abgeschoben. 1970 folgt der Parteiausschluss. Danach arbeitet er streng überwacht in einem Forstbetrieb.
Zum Symbol des Protestes wird die Schleife der tschechoslowakischen Trikolore, die sich die Menschen an ihre Kleidung stecken. Unmittelbar nach der Invasion beginnt der aktive und passive Widerstand. In vielfältiger Weise versucht man, sich den Besatzern zu erwehren.
Überall, auf Schaufenstern und Hausmauern, auf Lokomotiven und Waggons, auf PKWs und Lastwagen, auf Straßen und Telefonzellen werden Zeichnungen, Karikaturen und Parolen angebracht, die den Soldaten zeigen, wie unerwünscht sie sind.
"10 Gebote des passiven Widerstandes"
Wesentliche Bedeutung für die Organisation des Widerstandes haben die Massenmedien. Zwar behindern die Besatzer deren Arbeit, unterbinden können sie sie aber nicht. So wird über das Radio und den Zeitschriften u.a. der Verhaltenscodex gegenüber den Besatzern verbreitet.
Flugblatt | Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Brandenburger in Böhmen
[Titel einer Smetana-Oper]
Nach J.W.Stalin
Regie:
Leonid Breshnew
Dirigent: General Jakubovski
Bühnenbilder und Spezialeffekte:
General Pavlovski
Inspizienten:
Gomulka, Kadar, Shiwkow
Souffleur:
Walter Ulbricht
Der Widerstand hält eine Woche. Dann übernehmen die Tschechen selbst die Kontrolle im Sinne Moskaus. Die sowjetischen Truppen ziehen sich zurück. Jede gesellschaftliche Teilhabe (Abitur, Studium, Karriere) ist fortan an eine öffentliche Absage an den „Prager Frühling“ gebunden.
Die niedergeschlagene Alternative in der ČSSR hinterlässt das Bewusstsein, der Staatssozialismus ist nicht reformierbar. |
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