Internationale Kafka-Konferenz am 27./28. Mai 1963
Horst Sindermann – Kandidat des Politbüros der SED: „Es besteht ein Zusammenhang mit Auffassungen, die von Prag aus zu uns drängen und revisionistischen Theorien in der DDR.“
[Ausschnitte aus Sindermanns Rede auf dem 5. Plenum der SED vom Februar 1964]
Quelle: Neues Deutschland, 13.2.1964
Was ist passiert?
Anfang der 1960er Jahre entsteht ein intellektuelles Klima, in dem eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sozialismus stellvertretend in Kunst und Kultur stattfindet. Für die Tschechen und Slowaken ist die „späte“ Sprengung des Stalin-Denkmals im Jahr zuvor ein Symbol: Mit dem Diktator fällt die dogmatische Nachkriegsvergangenheit.
In der ČSSR begünstigte der 12. Parteitag der KPČ im Dezember 1962 diese Tendenz. Auf diesem wurden Fehler und Rechtsverstöße bei den politischen Prozessen der 1950er Jahre eingeräumt. Mehr als „Lippenbekenntnis“ gedacht entsteht daraus eine vorsichtige Entstalinisierungs- und Personenkultdebatte. Eine tragende Rolle spielen dabei vor allem Schriftsteller und Journalisten.
Die Parteiführung versucht dem zunächst entgegenzuwirken, aber die eingeübten und bekannten stalinistischen „Regularien“ in Form von Repressionen bleiben relativ wirkungslos.
Die tiefe wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise ist unübersehbar.
Den größer werdenden Handlungsspielraum nutzen die tschechoslowakischen Künstler und es zeigen sich die ersten Vorboten des „Prager Frühlings“ von 1968.
In Liblice, nahe Prag, findet eine Konferenz aus Anlass des 80. Geburtstages des jüdischen Schriftsteller Franz Kafka (1983-1924) statt, der in Prag lebte. Das Werk, des bis dahin in der sozialistischen Welt als bürgerlich dekadent und pessimistisch verfemten Schriftstellers, wird im Rahmen der Tagung aufgewertet. Was wie ein literaturwissenschaftlicher Fachaustausch beginnt, ist in seinem Ergebnis eine gesellschaftspolitische Debatte.
Quelle: ČTK
Im Mittelpunkt der Diskussion steht das Phänomen der „Entfremdung“ in Kafkas Werk. Obwohl ein derartiges Gefühl im Themenkatalog des „sozialistischen Realismus“ nicht vor kommt, muss man doch eingestehen, dass „Entfremdung“, nicht nur wie bei Kafka zum kapitalistischen, sondern auch zum sozialistischen Alltag gehört. Ebenso zum sozialistischen Alltag gehört die Verleugnung dieser Erscheinung. Dieser Widerspruch wirft nun Fragen über den Zustand der sozialistischen Gesellschaft auf.
Initiator der Veranstaltung ist der Germanist Eduard Goldstücker, der 1951 selbst Opfer des parteiinternen und antisemitischen Machtkampfes wurde und bis 1955 im Gefängnis saß. Der Freigeist emigriert nach der militärischen Niederschlagung der Reformen im August 1968 nach Großbritannien.
Die DDR-Delegation kann die Intention der Konferenz nicht teilen. Kafka sei zwar historisch bedeutend, seine Texte hätten aber mit der sozialistischen Realität nicht viel gemein.
Die Kafka-Konferenz von Liblice bildet den Beginn eines intellektuellen Freiraums, der sich im Laufe der folgenden Jahre immer mehr weitet. Die KPČ hat zu lange an der stalinistischen Politik festgehalten und setzt sich dadurch wachsender und immer schwerer zu unterdrückender Kritik aus.
Erste Veränderungen
1963 erreicht die Wirtschaftskrise, die sich seit Mitte der 1950er Jahre immer stärker abzeichnete, ihren Höhepunkt. Auf dem Parteitag im Dezember 1962 wird eine Kommission beauftragt, Grundsätze zur „Vervollkommnung der planmäßigen Lenkung der Volkswirtschaft“ auszuarbeiten. Innerhalb der KPČ etabliert sich eine Opposition, die Staats- und Parteichef Antonín Novotný unter Druck setzt.
Die Verstrickung von Regierungsmitgliedern in die „Säuberungen“ der 1950er Jahre führt auf Druck der Partei zu personellen Konsequenzen. Am 21. September muss Novotný die Regierung umbauen. Er entlässt sieben Minister, darunter auch Ministerpräsident Široky.