Alle Artikel, Audios und Videos zur Sowjetunion.
Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges wird die Sowjetunion zur Großmacht. Ostmitteleuropa, große Teile Südosteuropas und auch ein Teil Deutschlands gehören zu ihrem Machtbereich. In allen diesen Staaten und Gebieten etabliert die Sowjetregierung innerhalb von etwa drei Jahren Satellitenregime nach ihrem Vorbild.
In Ostdeutschland ist sie mit Hilfe loyaler Institutionen mehrere Jahre die Ordnungsmacht. Die Präsenz des sowjetischen Militärs verdeutlicht tagtäglich die Abhängigkeit der DDR vom „Großen Bruder“. Diese Abhängigkeit wird mit der sowjetischen Reformpolitik Mitte der 1980er Jahre zur Hoffnung für das eigene Leben. Doch die Staats- und Parteiführung in der DDR verweigert sich den Zeichen der Zeit. Jetzt postuliert die SED die staatliche Souveränität gegenüber der Sowjetunion. Ungewollt befördert sie damit einen sich immer stärker artikulierenden Protest.
Konferenz von Jalta
Vom 4. bis 11. Februar 1945 treffen sich auf der Krim die drei Mächte der Anti-Hitler-Koalition. U.a. wird die Nachkriegsordnung in Osteuropa und in Deutschland festgelegt. Durch die militärischen Erfolge der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland befindet sich Stalin (r.) gegenüber seinen Verhandlungspartnern Churchill (l.) und Roosevelt in der Offensive und kann seine Interessen durchsetzen. Die durch den Kriegsverlauf besetzten Gebiete Mittelosteuropas bilden fortan einen „Ring“ aus Satellitenstaaten um die Sowjetunion zum Schutz vor dem Westen.
Die Entstehung des Kalten Krieges
Die großen „Drei“ schachern um Einflusssphären und Kriegspfründe. Die Landkarte Mittelosteuropas bekommt ein neues Gesicht - Staatsgrenzen werden neu gezogen, Deutschland geteilt. Es ist der Beginn der Großmachtpolitik und die Entstehung der politischen Blöcke, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen. Erst die Überwindung des Systems von Jalta ermöglicht in den 1990er Jahren die Chance für eine gesamteuropäische Einheit.
In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) werden dem Stalinismus ergebene deutsche Kommunisten in Verwaltungspositionen eingesetzt. Deren „Linientreue“ wurde während der „großen Säuberungen“ in den Jahren 1936 / 38 geschult. Damals fielen auch viele deutsche Kommunisten den Repressionen zum Opfer, nachdem sie aus Nazi-Deutschland in das „Mutterland“ ihrer Bewegung emigrierten und sich vor Verfolgung sicher glaubten. An der Spitze der Kommunistischen Partei sind bedingungslose Stalinisten übrig geblieben.
Stalin: „Jeder jüdische Nationalist ist ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes.“
Der „großen Säuberung“ der Jahre 1936 bis 1938 folgt nach dem Krieg eine neue Welle politischer Verfolgungen durch Stalin. Die Gründung des Staates Israel 1948 und dessen Anlehnung an die USA als Schutzmacht machen nun vor allem die Juden zu einem potentiellen Sicherheitsrisiko. Per se würden sie die USA im Kampf gegen die kommunistischen Regime unterstützen. Diesen neuen Antisemitismus übernehmen auch die Satellitenstaaten.
Der traditionelle russische Antisemitismus wird von Stalin für seine Machtpolitik funktionalisiert. |
In der Folgezeit verschwinden jüdische Künstler und Intellektuelle. Jüdische Kultureinrichtungen wie Theater, Verlage und Schulen werden geschlossen sowie jüdische Organisationen aufgelöst.
Den Höhepunkt der antisemitischen Kampagne bildet die sogenannte „Ärzteverschwörung“. Am 13. Januar 1953 werden einige der bekanntesten Ärzte beschuldigt, führende Staats- und Parteifunktionäre durch falsche Diagnosen und Behandlungsmethoden töten zu wollen. Sie seien Beteiligte einer „zionistischen Spionageorganisation“, die im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes handelt.
Erst der Tod Stalins am 5. März 1953 beendet die Kampagne und verschont viele vor der Hinrichtung oder Inhaftierung.
Auch innerhalb der kommunistischen Partei KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) finden Ende der 1940er Jahre erneute politische „Säuberungen“ statt. Im Zuge des Machtgerangels zwischen Moskau und Leningrad (heute: St. Petersburg), werden zahlreiche hochrangige Parteifunktionäre verhaftet, in Geheimprozessen verurteilt und erschossen. Insgesamt verlieren etwa 2.000 Parteifunktionäre ihre Posten und 200 kommen in Straflager.
Am 29. August testet die UdSSR ihre erste Kernwaffe. Als „Vater der sowjetischen Atombombe“ gilt der Physiker Igor Kurtschatow (1902-1960). Das Land ist damit nach den USA die zweite Atommacht. Der Wettlauf um Rüstung und Nachrüstung erreicht in der Folge eine Dimension, die die gesamte Menschheit gefährdet. Ziel der Rüstungsspirale ist die militärische Abschreckung des jeweiligen politischen Gegners. Es manifestiert sich der Irrglaube, dass nur ein militärisches „Gleichgewicht“ den Frieden auf der Welt erhalten kann. Diese Doktrin bestimmt die folgenden Jahrzehnte.
Civil Defense Film (USA), 1951: „Duck and Cover“
In den USA fühlt man sich zum ersten Mal wirklich bedroht. Zum Schutz der Zivilbevölkerung startet die „Duck and Cover“ – Kampagne („Ducken und Deckung suchen“). Den Schulkindern wird mithilfe von Comics und Lehrfilmen beigebracht, im Falle eines nuklearen Angriffs sich „richtig“ zu verhalten. Der Film zeigt die in der damaligen Zeit sorglose Einstellung gegenüber Nuklearwaffen und der naive Glaube, sich schützen zu können.
Die absolute Macht geht vom Staatsoberhaupt Josef Wissarionowitsch – Generalissimo – Stalin aus. Besonders nach der Etablierung der Sowjetunion als Großmacht nach dem II. Weltkrieg entwickelt sich ein extremer Personenkult, der von den sozialistischen Volksdemokratien übernommen wird. Die Glorifizierung Stalins grenzt an pseudoreligiöse Verehrung.
„Es lebe der neue Fünfjahrplan des Genossen Stalin! – Hurra!“
Dem Führer der kommunistischen Weltbewegung wird in verordneten Demonstrationen gehuldigt. Dieses Trugbild der Bejahung durch Menschenmassen rechtfertigt seine praktische Alleinherrschaft. Dementsprechend bedeutet jede Kritik oder Zweifel an der Person Stalins automatisch Systemkritik und kann für den Betreffenden unkalkulierbare Folgen haben. Selbst ein Witz kann Menschen hinter Gitter bringen.
Am 5. März 1953 stirbt Stalin.
Johannes R. Becher
Dem Ewig-Lebenden
(März 1953)
[…]
Den Namen Stalin trägt die neue Zeit.
Lenin – Stalin sind Glücksunendlichkeit.
Begleitet Stalin vor die rote Mauer!
Erhebt euch in der Größe eurer Trauer!
Seht: Über Stalins Grab die Taube kreist.
Denn Stalin: Freiheit – Stalin: Frieden heißt!
Und aller Ruhm der Welt wird Stalin heißen!
Laßt uns den Ewig-Lebenden lobpreisen!
Nachdem der „Stern“ von Außenminister Molotow bereits zu Lebzeiten Stalins gesunken war, bleiben vier potentielle Nachfolger:
Georgi Malenkow | Lawrenti Berija | Nikolai Bulganin | Nikita Chruschtschow |
Regierungschef (Vorsitzender des Ministerrates) | Innenminister und Geheimdienstchef (Ministerium für Staatssicherheit – MGB) | Marschall der Sowjetunion Verteidigungsminister |
Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei (KPdSU) |
Den Machtkampf gewinnt nur derjenige, der innerhalb des Machtapparates die stärkere Koalition für sich bilden kann. Es kristallisieren sich zwei Fronten heraus:
Es konkurriert die Partei gegen die Regierung. Es gewinnt die Partei. |
Nikita Chruschtschow wird am 7. September 1953 offiziell zum 1. Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt.
Ähnlich wie nach Lenins Tod 1924 und dem Aufstieg Stalins setzen sich die politischen Intrigen mit wechselnden Koalitionen fort bis alle ehemaligen Konkurrenten ausgeschaltet sind:
-> Berija wird bereits im Juni 1953 auf Betreiben Chruschtschows verhaftet und im Dezember wegen „Spionage“ verurteilt und erschossen. Er erliegt demselben Mechanismus, den er jahrelang gegen vermeintliche Regimegegner praktizierte.
-> Malenkow verliert seinen Einfluss mit der Entmachtung Berijas. 1955 wird er als Regierungschef abgesetzt. Nach einer missglückten „Palastrevolte“ im Juni 1957, als die Altstalinisten Chruschtschow stürzen wollen, weil ihnen dessen Entstalinisierungsprozesse zu weit gehen, wird er endgültig in die „Wüste“ geschickt.
-> Bulganin, sein Nachfolger als Regierungschef und zunächst Verbündeter Chruschtschows, stürzt ebenfalls über die missglückte Intrige von 1957 und wird 1958 in die „Wüste“ geschickt.
Fünf Jahre nach Stalins Tod bleibt nur noch Chruschtschow von den alten Eliten. Er hat jetzt eine Machtfülle wie sein Vorgänger.
Chruschtschow: „Der endgültige Triumph des Kommunismus“
Seine Rede hat aber nichts mit Liberalisierung der öffentlichen Meinung zu tun. Er liefert auch gleich das Argument, warum es nie eine kritische Debatte geben darf:
In den Folgejahren verschwindet Stalin „klammheimlich“ im öffentlichen Erscheinungsbild – Städte, Fabriken, Straßen, Institutionen werden umbenannt.
Sowjetische Parteitage sind auch immer Handlungsanweisungen für die Satellitenstaaten. Eine Diskussion über den Stalinkult findet auch dort nur innerhalb der Parteispitze statt. Darin geht es aber eher darum, wie man ohne Gesichtsverlust die „Kehrtwende“ schafft. Allein die Ahnung einer öffentlichen Debatte wird als „feindliche Propaganda“ deklassiert und verfolgt.
Chruschtschows Redemanuskript gelangt trotzdem an die Öffentlichkeit. Während es im Ostblock verschwiegen wird, veröffentlichen westliche Zeitungen die Aussagen.
Zwei Leipziger Oppositionelle schreiben 1988/89 die Rede aus westdeutschen Zeitungen mühsam mit einer Schreibmaschine in mehreren Exemplaren ab. Sie binden das 38-seitige Dokument und verteilen es heimlich.
Der „eiserne Vorhang“
Im internationalen Koordinatensystem nach dem 2. Weltkrieg ist die Sowjetunion zur Besatzungs- und Hegemonialmacht in Mittel-Osteuropa geworden. Die bi- und multilateralen Bündnisse mit den Satellitenstaaten sind rein formell.
Mit der Gründung des „Warschauer Vertrags“ am 14. Mai 1955 etabliert die Sowjetunion ein wichtiges transnationales Militärbündnis des Ostblocks unter seinem Befehl.
Polen 1956 | Ungarn 1956 |
„Russische Demokratie raus“ Quelle: Karta Zentrum |
„Russen geht nach Hause!“ Quelle: archive. org |
Wie nach dem Tod Stalins in der DDR (17. Juni 1953) wird auch nach Chruschtschows Geheimrede eine Demokratisierung der Gesellschaften massiv gefordert – diesmal in Polen und Ungarn.
Die Demonstrationen und Aufstände werden mit militärischen Mitteln niedergeschlagen. Nachdem sich in Ungarn sogar Partei- und Regierungskreise mit der protestierenden Bevölkerung solidarisieren, wird das Land von der sowjetischen Armee besetzt. Es kommt zu einem Krieg mit der ungarischen Zivilbevölkerung.
Die Präsenz des sowjetischen Militärs in den Volksdemokratien bildet die „Exekutive“ (vollziehende Gewalt) zur Absicherung des dortigen Sozialismus und der Vormachtstellung der UdSSR gegenüber seinen „Bruderstaaten“. |
Sowjetisches Staatsfernsehen: „Liquidierung des Besatzungsregimes in Westberlin“
Dem vorausgegangen ist ein Ultimatum Chruschtschows, wonach Gesamtberlin eine freie entmilitarisierte Stadt (Aufhebung des Vier-Mächte-Status) sein solle. Anderenfalls würde man der DDR die Hoheit über die Zufahrtswege überlassen und ihr einseitig die Souveränität zugestehen. Ziel Chruschtschows ist es, die paradoxe Situation der westlichen Enklave (Westberlin) im sowjetischen Einflussbereich, zu seinen Gunsten zu lösen.
Einigen kann man sich nicht. Der amerikanische Plan, Friedensverhandlungen erst mit einem auf der Grundlage freier Wahlen geeinten Deutschland aufzunehmen, scheitert an den sowjetischen Vorstellungen eines sozialistischen Gesamtdeutschlands. So unüberbrückbar die Differenzen sind, allein die in Aussicht gestellte Gesprächsbereitschaft verhindert zunächst militärische Konsequenzen.
Diese gescheiterte Konferenz ist bis zu den „2+4“ Verhandlungen 1990 der letzte Versuch der ehemals Alliierten, eine Lösung der Deutschlandfrage zu verhandeln. |
Chruschtschow hat seine Absicht nicht nur verbal untermauert. Die Sowjetunion beginnt im April 1959 mit der Stationierung von 12 atomaren Mittelstreckenraketen in der DDR – der erste Standort im Ausland. Die Raketen sind auf Großbritannien und Frankreich gerichtet. Weder das DDR-Militär noch die DDR-Führung sind über die Vorgänge bei Fürstenberg und Vogelsang (Brandenburg) informiert. Im Herbst 1959 werden die Raketen jedoch wieder abgezogen und nach Kaliningrad verlegt.
Das Wettrüsten im „Kalten Krieg“ schließt seit den 1950er Jahren das Weltall mit ein. Trägerraketen, die Material ins Weltall befördern können, sind potentiell auch mit Atomsprengköpfen bestückbar.
Jurij Gagarin fliegt als erster Mensch in den Weltraum.
Der erste Mensch im All ist ein spektakulärer Triumph des sowjetischen Raumfahrtprogramms.
Chruschtschow erneuert Anfang Juni 1961 gegenüber dem neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy seine alte Forderung von 1958, wonach die Westalliierten ihre Rechte in West-Berlin aufgeben sollen. Chruschtschow droht erneut mit einem Ultimatum, die DDR einseitig anzuerkennen.
Er steht im Zenit seiner Macht und demonstriert Stärke. Berlin bildet für ihn ein politisches und militärstrategisches Problem - für SED-Chef Ulbricht ein wirtschaftliches durch das „Ausbluten“ der DDR (Massenflucht). Beide haben ein Interesse an der Abriegelung West-Berlins.
SED-Chef Ulbricht auf der internationalen Pressekonferenz in Berlin am 15.06.1961 | Quelle: Bundesarchiv
„Sie betreten das demokratische Berlin“
In unmittelbarer Verantwortung der DDR werden die drei Westsektoren von Berlin am 13. August 1961 abgeriegelt. Damit mauert sich die DDR selbst ein. Die Sowjetunion leistet „Rückendeckung“, indem sie ihre Truppen in der DDR, Polen und Ungarn verstärkt.
„Antifaschistischer Schutzwall“ ist ab Oktober 1961 die offizielle Umschreibung der nun manifesten Teilung Deutschlands. Der Begriff „Mauer“ wird untersagt und gilt fortan als „feindliche Propaganda“. (Quelle: archive.org)
Die Situation droht zu eskalieren. Am 27. Oktober stehen sich am „Checkpoint Charlie“ in der Berliner Friedrichstraße sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber. Eine militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten und damit der Ausbruch eines Weltkrieges mit dem Einsatz von Nuklearwaffen scheinen 14 Stunden lang jederzeit möglich.
Grenzübergangsstelle „Checkpoint Charlie“
Am Morgen des 28. Oktober ziehen sich beide Seiten zurück.
Ein knappes Jahr später steht die Welt erneut am Rande eines nuklearen Weltkrieges.
Bild: Chruschtschow mit dem kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro (Quelle: archive.org)
Die Sowjetunion beginnt am 10. Juni 1962 im Rahmen einer geheimen Operation, Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren. Sie entspricht damit zum einem dem Hilfeersuchen Kubas, das jederzeit mit einer Invasion der Amerikaner rechnen muss, andererseits wird Kuba als Militärbasis gegen die USA genutzt.
Neben 42.000 Soldaten, die als Erntehelfer getarnt sind, werden 230.000 Tonnen Ausrüstung auf die Insel verschifft, darunter 40 atomare Mittelstreckenraketen. Die Aktivitäten bleiben den Amerikanern nicht verborgen. Es kommt zur „Kuba-Krise“, von deren Existenz die Öffentlichkeit erst am 22. Oktober in Kenntnis gesetzt wird. Die USA verhängen eine Seeblockade über Kuba und veranlassen die größte Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Amerikanische Aufklärungsbilder von der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba | Quelle: archive.org
Am 27. Oktober kommt es auf hoher See zu einer Auseinandersetzung zwischen einem US-Zerstörer und einem sowjetischen, mit Atomwaffen ausgerüsteten U-Boot. Der Kapitän ist autorisiert, diese zur Verteidigung auch einzusetzen. Für den Abschuss der Torpedos ist jedoch die Zustimmung dreier Offiziere nötig. Einer von ihnen, Wassili Archipow, verweigert die Zustimmung ohne weiteren Befehl aus Moskau. Dies verhindert eine mögliche atomare Eskalation.
Am selben Tag wird ein amerikanisches U-2-Spionageflugzeug über Kuba abgeschossen. Die Lage droht nun völlig außer Kontrolle zu geraten. Es wird ein geheimes Treffen zwischen dem amerikanischen Justizminister Bobby Kennedy und dem sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin arrangiert, um die Lage zu deeskalieren.
Kennedy erklärt sich bereit, die amerikanischen Jupiterraketen aus der Türkei abzuziehen, die dort praktisch unmittelbar vor der Haustür der Sowjetunion stationiert sind. Am nächsten Tag verkündet Chruschtschow den Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba.
Universal newsreel: „Die Frage bleibt, ob er etwas damit zu tun hatte, den Abgang seines Chefs zu beschleunigen.“
Chruschtschows oft eigenmächtige Politik verprellt die Funktionäre, indem er z.B. altgediente „Kader“ entließ. Seine versprochenen Reformen in der Industrie und Landwirtschaft greifen nicht. Sein Zerwürfnis mit China spaltet die kommunistische Weltbewegung. Schließlich führt seine Unberechenbarkeit der Entscheidungen zu einer Verschwörung in der Parteispitze.
Bereits drei Tage später, am 17.10., erscheint in der Parteizeitung „Prawda“ (Wahrheit) ein in „parteikyrillisch“ verfasstes Statement über die Neuausrichtung des politischen Kurses und eine Abrechnung mit Chruschtschow, ohne dass dessen Name genannt wird.
In Abgrenzung zu Chruschtschow und zur Rechtfertigung seines Sturzes propagiert Breschnew die „Kollektivführung“:
„Die Leninsche Partei ist Feind des Subjektivismus und des Selbstlaufs im kommunistischen Aufbau. Fremd sind ihr Phantasterei, verfrühte Schlußfolgerungen und übereilte, von der Realität losgelöste Entscheidungen und Handlungen, Prahlerei und leeres Gerede, Hang zum Administrieren und Ignorieren dessen, was Wissenschaft und praktische Erfahrung schon erarbeitet haben. Der Aufbau des Kommunismus ist eine lebendige, eine schöpferische Aufgabe, die keine bürokratischen Methoden, keine eigenmächtigen Entscheidungen, kein Ignorieren der praktischen Erfahrungen der Massen duldet. Die Kollektivität der Führung ist das Wichtigste dieser Prinzipien, die erprobte Waffe, das höchste politische Gemeingut unserer Partei.“ Quelle: Neues Deutschland 17.10.1964 |
Breschnew selbst präsentiert nach außen den „Unschuldigen“ beim Sturz Chruschtschows. Er kommt erst drei Tage vor der entscheidenden Präsidiumssitzung nach einwöchigem (!) Aufenthalt in der DDR am 11. Oktober nach Moskau zurück.
Unter Breschnew entwickeln sich Vetternwirtschaft, Korruption und feste Beziehungsgeflechte (Clan-Strukturen).
Löhne und Prämien, Ausstattung des Arbeitsplatzes, Größe der Wohnung, Erholungsort, ärztliche Betreuung und soziale Dienstleistungen sind dieser strengen Hierarchie unterworfen. Bedürfnisse und Fähigkeiten sind damit ebenfalls fest fixiert.
So brauche z.B. ein Usbeke keine große Wohnung, denn er besitzt keine Bücher, Bilder usw., da er nicht über das intellektuelle Niveau (der Russen) verfügt. Oder: Ein Bauer bleibt ein Bauer, wenn er keine „Beziehungen“ hat.
Anfang 1964 schließen die Sowjetunion und die DDR ein Abkommen über die Möglichkeit visafreier Privatreisen. Der bürokratische Aufwand ist aber enorm.
Man benötigt eine "Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr", die zusammen mit dem "Antrag auf Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik" und dem Personalausweis gültig ist. Diese Reiseanlage wird von den Volkspolizeikreisämtern der DDR ausgestellt. Um diese allerdings zu bekommen, ist eine von sowjetischer Seite bestätigte "formgebundene Einladung" in kyrillischer Schrift vorzulegen.
Eine solche Einladung ist also, ohne persönliche Beziehungen in die Sowjetunion kaum zu bekommen.
Geregelt wird auch der Durchreiseverkehr mittels Transit-Visum durch die Sowjetunion. Damit hat man die Berechtigung, sich maximal 3 Tage in der Sowjetunion aufzuhalten.
Das Abkommen bleibt weitgehend unbekannt, da nichts davon in der Presse oder den DDR-Gesetzesblättern mitgeteilt wird. Erst im August 1968, nachdem im Zuge des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakei geschlossen werden und tausende Urlauber in Ungarn, Rumänien und Bulgarien festsitzen, erfahren diese durch die DDR-Botschaften von der Möglichkeit, über die Sowjetunion und Polen zurück zu gelangen.
Die Reiseroute wird von sowjetischer Seite festgelegt. Ein Abweichen von der vorgeschriebenen „Маршрут“ (Marschrut) kann bei Kontrollen zu einigen Schwierigkeiten führen, denn jeder Tourist ist ein potentieller Spion. |
Die Sowjetunion und mit ihr der sozialistische Ostblock feiern den 50. Jahresstag der Oktoberrevolution und sehen darin die Menschenrechte verwirklicht. Doch die kritischen Stimmen sind nicht mehr zu überhören …
Unter dem Kommando der Sowjetunion beteiligen sich am 21. August 1968 fünf Armeen des Warschauer Pakts an der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der ČSSR. Sie zerschlagen damit die Hoffnungen nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und der Reformierbarkeit des Systems generell.
Dieses Ereignis zeigt, dass der Sozialismus sowjetischen Typs in stalinistischen Denk- und Machtstrukturen verhaftet bleibt.
Sie haben mich gerufen, Genosse? | Quelle: Literární listy, Praha
Breschnew-Doktrin
Auf dem Parteitag der polnischen Kommunisten verkündet Breschnew am 12.11.1968 die beschränkte Souveränität der sozialistischen Staaten, wenn sich in diesen Entwicklungen vollziehen, die dem (sowjetischen) Weltsozialismus zu wider laufen. Das Völkerrecht wird dabei den Gesetzen des Klassenkampfes untergeordnet.
Damit rechtfertigt Breschnew sein Vorgehen in der ČSSR im Nachhinein.
„Genossen, bekanntlich bestehen aber auch allgemeine Gesetzmäßigkeiten des sozialistischen Aufbaus. Eine Abkehr von ihnen könnte zu einer Abkehr vom Sozialismus führen. Und wenn die inneren und äußeren dem Sozialismus feindlichen Kräfte die Entwicklung irgendeines sozialistischen Landes auf die Restauration der kapitalistischen Ordnung zu wenden versuchen, wenn eine Gefahr für den Sozialismus in diesem Land, eine Gefahr für die Sicherheit der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft entsteht, ist das nicht nur ein Problem des betreffenden Landes, sondern ein allgemeines Problem, um das sich alle sozialistischen Staaten kümmern müssen.“ Neues Deutschland, 13.11.1968 |
Reinhard Bohse: „Die Russen dachten, sie kämen als Befreier.“
Lebenslauf Reinhard Bohse
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Mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki im Sommer 1975 versuchen erstmals die Staaten West- und Osteuropas unter Einbeziehung der USA und Kanada die Entspannung in Europa durch multilaterale Zusammenarbeit zu sichern.
Bis auf Albanien unterschreiben alle sozialistischen Länder Europas am 1. August die Schlussakte von Helsinki. Es werden Leitlinien zur Verbesserung der sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und humanitären Beziehungen aufgestellt. So verpflichten sich die Unterzeichner u.a. zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dieser Passus bildet die Grundlage osteuropäischer Menschenrechtsgruppen, die nun die jeweiligen Regime in die Pflicht nehmen.
In völliger Ignoranz der Situation spricht Breschnew den finnischen Versammlungsleiter gewohnheitsgemäß mit „Genosse“ an. Darüber hinaus sind seine Reden immer schwer zu verstehen. Er spricht undeutlich und liest z.T. zusammenhangslose Sätze ab. (Quelle: archive.org)
Nach dem Moskauer Vorbild entstehen ähnliche Menschenrechtsgruppen in der Ukraine, Litauen, Georgien und Armenien.
Im Jahr 1979 greift die Breschnew-Doktrin nach 1968 in der ČSSR ein zweites Mal. Am 25./26. Dezember 1979 marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Im Jahr zuvor hat sich die kommunistische „Demokratische Volkspartei Afghanistans“ an die Macht geputscht. In die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung der Politik greift die Sowjetunion ein. Sie versichert zwar nach der „Wiedererstellung der öffentlichen Ordnung“ abzuziehen, doch es beginnt eine 10-jähriger Besatzungszeit bis 1989.
Wladimir Bukowski: „Das ist ein typisches Muster sowjetischer internationaler Beziehungen.“
Der Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht wird zur heterogenen Massenbewegung mit ständig wachsendem Zulauf. Dominiert wird er von islamistischen Guerilla-Gruppen (Mudschaheddin), die ihrerseits materielle und logistische Hilfe aus den USA und Pakistan beziehen. Der Krieg kostet etwa 1 Mio. Afghanen das Leben, 4 Mio. Menschen sind auf der Flucht nach Pakistan und den Iran.
Die Etablierung eines weiteren Satellitenstaates jetzt auch im Mittleren Osten heizt die Ost-West-Auseinandersetzung weiter an. Die unmittelbare Nähe der Sowjettruppen zu den ölreichen Regionen des Nahen Ostens beunruhigt den Westen. Die Generalversammlung der UNO stimmt mit 104 zu 18 Stimmen für einen sofortigen Abzug aller Truppen aus Afghanistan. Im Gegenzug verwahrt sich Breschnew gegen die Einmischung in „legitime interne Angelegenheiten“ Afghanistans.
Eine der diplomatischen Folgen ist die Warnung der westlichen Welt, die olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau zu boykottieren.
Andrej Sacharow wird am 22. Januar 1980 verhaftet, nachdem er gegen den Einmarsch in Afghanistan protestierte. Er wird nach Gorki (heute: Nischni Nowgorod) verbannt und steht dort unter der Aufsicht des Geheimdienstes KGB. Im Jahr 1984 muss seine Frau ebenfalls dorthin. Erst die Perestroika ermöglicht ihnen 1986 eine Rückkehr nach Moskau. |
Vom 19. Juli bis zum 3. August 1980 findet in Moskau zum ersten Mal die Olympiade in einem Ostblock-Land statt. Die XXII. Olympischen Sommerspiele sollen zum Schaufenster des Sozialismus werden. Alle müssen mit anpacken. So muss sich die DDR an der Fleischversorgung beteiligen, was zu Engpässen für die eigene Bevölkerung führt.
Leonid Breschnew: „Genossen, ich eröffne die Olympischen Spiele.“
Die Ost-West-Konfrontation hat den Sport längst eingeholt. Aus Protest gegen den Afghanistan-Einmarsch üben die westlichen Regierungen Druck auf ihre Nationalen Olympischen Komitees (NOK) aus. Die NOK’s der US-Verbündeten Großbritannien, Frankreich, Finnland, Irland, Italien, Neuseeland, Spanien und Schweden stellen eine Teilnahme ihren Sportlern frei. 65 Nationen boykottieren die Spiele.
Aus Protest gegen den Afghanistan-Krieg marschiert die britische Mannschaft bei der Eröffnungsfeier nicht mit in das Olympiastadion ein. Statt der Nationalflagge trägt der britische NOK-Chef Dick Palmer die Olympiafahne. Dieser Protest-Symbolik schließen sich 15 weitere Nationen an, die die gesamten Spiele unter dieser Fahne starten.
Zu einem weiteren politischen Eklat kommt es auf der Abschlussfeier. Traditionsgemäß wird dabei die Fahne des nächsten Ausrichterlandes gehisst. Das sind die USA. Statt der US-Flagge nutzt man die Stadt-Fahne des Olympiaortes Los Angeles.
Die Moskauer Revanche folgt vier Jahre später. Am 8. Mai 1984 verkündet die Sowjetunion ihre Nichtteilnahme an den Spielen in Los Angeles. Sie fürchte wegen der antisozialistischen Stimmung durch die Reagan-Administration um die Sicherheit ihrer Sportler. Zwei Tage später folgt die DDR. Bis auf Rumänien boykottieren alle Ostblock-Staaten das Ereignis.
DDR-Spitzensportler werden genötigt „Lippenbekenntnisse“ abzugeben und damit die Entscheidung der KPdSU im Allgemeinen und der SED im Besonderen zu rechtfertigen.
Wladimir Wyssozki: „Auf Massengräbern gibt es keine Kreuze, weil sie niemandem Erleichterung bringen.“
Während der Olympischen Spiele stirbt am 25. Juli 1980 der sehr populäre Schauspieler, Dichter und Sänger Wladimir Wyssozki im Alter von 42 Jahren. Als Liedermacher ist er für seine kritischen Texte bekannt, in denen er Tabu-Themen wie Prostitution, Verbrechen und Antisemitismus aufgreift. Er wird an Auftritten gehindert und als Rebell geschmäht. Für ein Millionenpublikum ist er der „Volksheld“. Sein Tod wird in den Medien nicht bekannt gegeben, doch verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in Moskau. An seiner Beerdigung am 28. Juli 1980 nehmen mehr als 40.000 Menschen teil. |
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