Die Themenblöcke zur Sowjetunion
In jeder Mangelsituation oder durch jedes Verbot entstehen Formen der Selbstorganisation.
Das Bedürfnis zu reisen, ist auch in der DDR sehr groß. Seit den 1970er Jahren nutzen immer mehr Abenteurer und Bergsteiger die Schwächen der Bürokratie aus, um den kleinen „legalen“ Reisehorizont zu erweitern und in die große Sowjetunion zu kommen. Grundlage für derartige „Grenzüberschreitungen“ bildet das kaum bekannte Abkommen über den visafreien Reiseverkehr von 1964.
Vor allem Bergsteiger, deren Ziele der Kaukasus oder die Hochgebirge Mittelasiens sind, besorgen sich über sowjetische Beziehungen eine Einladung, was ein sehr aufwendiges bürokratisches Procedere bedeutet. Das sowjetische Innenministerium legt u.a. eine „Маршрут“ (Marschrut) fest, von der die Gruppen nicht abweichen dürfen. Auf Grund ihres Äußeren (und Gepäcks), das nicht in das mittelasiatische Bild passt, werden sie schnell von der Polizei als Ausländer erkannt und müssen sich permanent „ausweisen“. Doch einmal in den Bergen befindet man sich in einem gewissen „Machtvakuum“ und kann sich relativ frei bewegen.
Der in der sowjetischen Bergsteiger-Szene bekannte Georg Renner aus Magdeburg liefert durch seine Reisen in den 1960/70er Jahren erste Erfahrungsberichte für nachfolgende Expeditionen. Seine Bücher gehen von Hand zu Hand. Die darin selbstgefertigten Landkarten bilden bis in die 1980er Jahre die Grundlage für manche Bergbesteigung, da die Sowjetunion aus militärstrategischen Gründen kaum Kartenmaterial produziert.
Weitere „Orientierungsmittel“ finden sich in DDR-Bibliotheken. Hier gibt es mitunter noch Material von deutschen Geologen, die vor dem 1. Weltkrieg das Gebiet bereisten.
Eine Expedition in den Pamir, Tienschan oder Fan-Gebirge setzt bei den Teilnehmern neben dem sportlichen Vermögen eine hohe Fähigkeit zur Improvisation und Flexibilität voraus.
Eine subversive und abenteuerliche Reise ist mit einem Transitvisum möglich. Mit der notwendigen „Reiseanlage für den visafreien Verkehr“ nutzt man die Sowjetunion als Transitland auf seinem Weg nach Rumänien oder Bulgarien, ohne dass sowjetische Behörden eingeschaltet werden müssen. Der Inhaber ist berechtigt, sich drei Tage in der UdSSR aufzuhalten. Einmal in der Ukraine schlägt man sich auf eigene Faust „unerkannt“ durch das riesige „Freundesland“ durch. Wochen später führt der Weg meist über Rumänien zurück. Bei der Ausreise zahlt man in aller Regel ein Bußgeld in Höhe von 30 bis 300 DDR-Mark wegen Überziehung der Aufenthaltsdauer.
Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wird diese Lücke in der Reiseregelung zu einer permanent anwachsenden „Unerkannt durch Freundesland“ – Bewegung (UdF). Die Ziele und Unternehmungen werden immer spektakulärer und führen weit über das Baltikum und die Gebirge Mittelasiens hinaus nach Kamtschatka, China, die Mongolei …
Einfallsreichtum ist von Nöten, um den vielen möglichen Kontrollen nicht ins „Messer“ zu laufen. Kommt man in Mittelasien noch gut und gern als „Balte“ durch, müssen bei anderer Gelegenheit „Legenden des Hierseins“ erfunden werden. Manchmal wollen sich Milizionäre nicht unnötig Arbeit aufladen oder gar sich ihrem Vorgesetzten verantworten müssen und schieben die UdFler in die benachbarte Sowjetrepublik ab.
Als beeindruckendes „Reisedokument“ bei Kontrollen dient der DDR-Sozialversicherungsausweis. Das für diesen Zweck eigentlich belanglose Büchlein wirkt jedoch von der Größe und dem eingestanzten DDR-Emblem wie ein richtiger Pass. Echtheit und Autorität suggerieren die vielen Stempel und Unterschriften von Arztbesuchen, Blutspenden, Verdienstbescheinigungen. Lesen kann sie der sowjetische Polizist sowieso nicht.
Fünf mal reiste Karim Saab in den 1980er Jahren illegal in die Sowjetunion. Im Vorfeld wurden Einladungen und Stempel gefälscht, um die Kontrollen in dem „absurden“ Land zu überstehen. Unbekannte Kulturen erweitern das Weltbild. In der Sowjetunion konnte Karim Saab sein Fernweh stillen. (Lebenslauf: Karim Saab)
Ungezählte Menschen nehmen sich die Freiheit, auf ihre Art zu reisen. Alle kommen mit bisher nicht bekannten Kulturen in Berührung und lernen eine andere Wirklichkeit als die der kleinen DDR kennen. Die vielen schönen Erlebnisse und die oft erfahrene Herzlichkeit der einheimischen Bevölkerung relativieren die eigenen Wertvorstellungen.
Darüber hinaus entstehen jenseits der sozialistischen Propaganda und den leeren Worten von der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ neue Weltbilder von der „Großen Ruhmreichen“: Korruption, Armut, ethnische Konflikte, staatliche Verbrechen.
Das Überwinden einer territorialen Demarkationslinie ist das Eine - die unkonventionellen und subversiven Erfahrungen von Freiheit, Abenteuer und Ferne reisen mit zurück in die DDR. Der autoritären Staatsmacht ein „Schnippchen“ geschlagen zu haben, relativiert den Respekt vor ihr.
Am 26. April 1986 explodiert Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl (Ukraine). Die nukleare Katastrophe löst weltweit einen Schock aus und stellt die Nutzung der Atomenergie generell in Frage.
In der DDR ist die SED in massiven Erklärungsnöten. Einerseits ist man aus Loyalität der Sowjetunion gegenüber verpflichtet, deren Nachrichtensperre zu befolgen, zum anderen muss man auf den „Wissensvorsprung“ in den DDR-Wohnzimmern durch die Westmedien reagieren.
„Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk“
Eine „Randnotiz“ auf Seite fünf erwähnt den GAU in der Ukraine. Am nächsten Tag räumt man auf der ersten Seite das „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ ein.
In den ersten Tagen nach der Havarie wird die Katastrophe nicht nur in der DDR verharmlost. In ihrer Erklärungsnot kommen der SED die Dementis der westlichen Atomlobby gerade recht. Doch die Auswirkungen der Katastrophe lassen sich nicht mehr vertuschen. Die radioaktive Wolke erstreckt sich über weite Teile Europas.
Quelle: Neues Deutschland, 3./4.5.1986
Die Gefahren für die eigene Bevölkerung werden durch die SED heruntergespielt. Die veröffentlichten Messdaten unterscheiden sich z.T. um das 75-fache gegenüber den gesammelten Daten der Staatssicherheit. Einer besonders starken Belastung sind die Bezirke Dresden und Cottbus ausgesetzt. Statt Grenzwerte festzulegen, formuliert die DDR-Führung intern „Richtwerte“. Schutz- und Vorsorgeentscheidungen werden nicht getroffen.
Über die Ausmaße der Strahlenbelastung in Mitteleuropa kann man sich nur über die westdeutschen Medien informieren.
Als in den Kaufhallen auf einmal ein für die Jahreszeit ungewöhnliches Gemüseangebot ausliegt, kaufen es viele Menschen nicht. Ihnen ist klar, dass es sich um Produkte handelt, deren Import in die Bundesrepublik wegen der Strahlenbelastung beschränkt wurde.
Daraufhin werden Salate an Schulküchen weitergeleitet.
Die vollkommen inakzeptable Informationspolitik der SED erzeugt Wut. Zwar gehört die „Hofberichterstattung“ in der DDR zum Alltag, doch jetzt empfinden es die Menschen ganz elementar, wie egal dem System das Wohl des Einzelnen ist. Entgegen der Ideologie besitzen die ökonomischen Interessen eine höhere Priorität als der Schutz der Bevölkerung. Aus diesem Grund erklärt die SED die Daten zur Umweltverschmutzung schon seit den 1970er Jahren zum Staatsgeheimnis.
Friedensgruppen protestierten bisher gegen die atomare Kriegsgefahr. Jetzt wird auch die zivile Nutzung der Kernenergie in Frage gestellt und der Ausstieg aus der Atomkraft gefordert. Das Themenspektrum der Arbeit erweitert sich. Friedensgruppen beschäftigen sich mit Umweltthemen und Umweltgruppen werden politischer.
Als unmittelbare Reaktion auf das Informationsdefizit im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe gründet sich 1986 die Ost-Berliner Umweltbibliothek unter dem Dach der Zionskirchgemeinde. Ab Juni 1986 erscheinen monatlich die „Umweltblätter“ – eine von vielen neu entstehenden Samisdat-Zeitschriften.
Umweltblätter der Umweltbibliothek Ost-Berlin, Juni 1986, Quelle: ABL
Für Teile der verunsicherten Bevölkerung dienen Umweltgruppen als Anlaufpunkt, um unabhängige Informationen zu bekommen. Damit einher geht die stärkere Wahrnehmung dieser Gruppen im Land. Es steigt die Sensibilität für Umweltprobleme im eigenen Umfeld, die nun offener thematisiert werden.
Ausstellung zum Umweltgottesdienst in Deutzen am 12.6.1988; Quelle: ABL/B. Heinze
In vielen Städten etablieren sich „Umweltbibliotheken“ als unabhängige Informationsräume unter dem Dach der Kirche. Die bedeutendste ist die in Berlin. Ziel ist die Schaffung von Öffentlichkeit, um die Bevölkerung zu sensibilisieren und damit den Handlungsdruck auf die Staatsmacht zu erhöhen.
Die Umweltthemen gehen über die Atomkraft hinaus. Die Probleme in der DDR sind für jeden greifbar, denn der Verfall und die Zerstörung von Lebensraum vollziehen sich im persönlichen Lebensumfeld. All diese Probleme spielen plötzlich eine bedeutendere Rolle als zuvor.
In vielfältigen Aktionsformen lassen sich für Umweltthemen die meisten Menschen mobilisieren: Demonstrationen, Fahrradkorsos, Ökologie-Seminare, Informationsveranstaltungen, Eingaben, Unterschriftensammlungen, Baumpflanzaktionen. In der gesamten DDR widersetzen sich Menschen der Tabuisierung dieser Problematik durch den Staat.
Bernd Albani: „Das war immer eine höchst politische Sache.“
Als Pfarrer in Frauenstein (Osterzgebirge) etablierte Bernd Albani bereits 1983 eine Umweltgruppe. Das Waldsterben sah man vor der Haustür. Die intensive Landwirtschaft (Gülle) erhöhte den Nitratgehalt von Grund- und Trinkwasser. Durch die Hüttenindustrie im Freiberger Raum war die ganze Gegend durch Schwermetalle belastet.
Die Gruppe versuchte, eine Öffentlichkeit für diese Probleme herzustellen. (Lebenslauf: Bernd Albani)
Der 5. Juni ist der Weltumwelttag und ein symbolträchtiges Datum für unterschiedlichste Proteste:
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Das Thema „Kernenergie“ bleibt in Regionen, die von Bauten neuer AKWs betroffen sind, aktueller denn je. In Stendal und im Dreieck Leipzig-Dahlen-Oschatz formiert sich ein breiter Protest.
Energie ist in der DDR kostbar. Die ineffizienten Kohlekraftwerke können den Bedarf nur auf Kosten von Mensch und Umwelt decken. Die Lösung heißt Atomstrom. In Stendal laufen die Bauarbeiten für ein Kernkraftwerk auf Hochtouren. Der erste Block soll 1991 ans Netz gehen, sieben weitere sollen folgen. In Börln (Dahlener Heide), nordöstlich von Leipzig, ist ein weiteres Atomkraftwerk in Planung.
Beide Projekte werden durch die Friedliche Revolution gestoppt.
Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Von Akteuren aus der Berliner Umweltbibliothek kommt im November 1987 der Vorschlag, die vielen, oft separat agierenden, Umweltgruppen in der DDR zusammenzuschließen. Damit soll die Effizienz der Arbeit verbessert werden. Fachliche und materielle Ressourcen können gebündelt, der Informationsfluss verbessert werden.
Im Januar 1988 kommt es in der Wohnung von Carlo Jordan zur Gründung des „Grün-ökologischen Netzwerk Arche“. Die Gründung steht im Zusammenhang mit dem unabhängigen Netzwerk „Greenway“ in Osteuropa. Seit 1987 gibt es personelle Kontakte und man sucht jetzt den internationalen Anschluss.
In Anlehnung an die landeskirchlichen Strukturen organisiert sich das Netzwerk über einen föderalen Aufbau. Die jeweiligen Sprecher treffen sich in Berlin. Grundlage bildet eine verbindliche Mitgliedschaft.
Im Samisdat bringt das Netzwerk arche-Info und ab Juli 1988 Arche Nova heraus | Quelle: ABL
„Die Idee des Netzwerkes ist in unser aller Interesse, wie die Erfahrungen mit Netzwerken in Polen, Ungarn, und der SU zeigen.“
In der ersten Nummer der „Arche Nova“ wird der Gründungsaufruf veröffentlicht. Das Netzwerk Arche muss sich mit dem Vorwurf einiger basisdemokratischer Gruppen auseinandersetzen, parteiähnliche Organisationsstrukturen aufzubauen.
Mit Hilfe von Wissenschaftlern und Fachleuten gelingt es erstmalig, die geheimen Bestimmungen über den Umgang mit Umweltdaten zu veröffentlichen. Im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen nutzt das Netzwerk Arche auch das Potential der Ausreisebewegung. Verfügt manch einer doch über mehr Fachinformationen als die gesellschaftlich ausgegrenzten Oppositionellen.
„Bitteres aus Bitterfeld“
Die spektakulärste Aktion der Arche ist der Film „Bitteres aus Bitterfeld“. Er dokumentiert die katastrophale Umweltsituation verursacht durch die DDR-Chemieindustrie. Unter strenger Geheimhaltung wird die Dokumentation im Juni 1988 im Bitterfelder Raum gedreht und nach Westberlin gebracht. Zahlreiche westdeutsche Sender bringen den Beitrag. In der DDR löst der Film eine große Betroffenheit aus.
Der Piratensender „Radio Glasnost“ gibt in seiner Sendung vom 25.10.1988 verschiedene Stimmen zum Film wieder (Ausschnitt).
Anfang 1989 plant das Netzwerk Arche eigene Kandidaten bei den bevorstehenden Kommunalwahlen am 7.5.1989 in einer „Grünen Liste“ aufzustellen. Trotz der ausweglosen Situation verhelfen die Aktionen im Zusammenhang mit der Wahlmanipulation der Opposition zum Durchbruch.
Das grün-ökologische Netzwerk bildet die strukturellen und personellen Voraussetzungen für die Gründung der „Grünen Partei“ in der DDR im November 1989.
Neben der Friedensbewegung, kirchlicher, subkultureller und informeller Gruppen bilden die Umweltgruppen ein großes Protestpotential, das im Herbst 1989 zur friedlichen Revolution und der Demokratisierung des SED-Staats beiträgt. |
Samisdat, der: - (russ.) - Selbstverlag
„Man schreibt selbst,
man redigiert selbst,
man zensiert selbst,
man verlegt selbst,
man verteilt selbst und
sitzt auch selbst die Strafe dafür ab.“
(Wladimir Bukowski)
Das Wort hat seinen Ausgang in der Sowjetunion der 1940er Jahre, als der Dichter Nikolai Glaskow seine Gedichte als handgeschriebene Exemplare unter dem Namen „Samsebjaisdat“ (Sich-selbst-Verlag) herausgibt. Verkürzt auf „Samisdat“ wird das Wort im internationalen Gebrauch zum Inbegriff der inoffiziellen Publikation und Verbreitung des unzensierten Wortes.
Der junge Journalist Alexander Ginsburg macht 1959 den Samisdat zur unabhängigen „Institution“, indem er ein Periodikum schafft. In „Syntaxis“ werden außerdem zum ersten Mal mehrere verbotene Autoren veröffentlicht (Almanach).
Der Menschenrechts-Samisdat entsteht 1964 als der junge Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger (1987) Josef Brodsky verurteilt wird. Die Mitschrift des Prozesses wird in tausenden Exemplaren in der ganzen Sowjetunion verteilt.
Buchcover: Samisdat in Mittel-Osteuropa -Ausstellungskatalog der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, 2000
In den deutschsprachigen Raum führt das Hamburger Wochenmagazin „Der Spiegel“ den Begriff im März 1968 ein. In einem Bericht über den Gerichtsprozess gegen die Herausgeber der sowjetischen Samisdat-Zeitschrift „Phönix“ wird er mit „Selbstverlag von Untergrundliteratur“ erklärt (Der Spiegel 13/1968). Auch in der ČSSR wird im Verlauf des Prager Frühlings der "Prozess der Vier" in der Sowjetunion diskutiert.
Über diese beiden Umwege wird „Samisdat“ in der DDR bekannt.
Bild: Sowjetisches Samisdat zum "Prozess der Vier", 1968; Quelle: Forschungsstelle Osteuropa Bremen, FSO 01 4
Mitte der 1970er Jahre beginnt ähnlich wie in der Sowjetunion die unabhängige Publizistik, indem Schriftsteller und bildende Künstler ihre Arbeiten im Selbstverlag veröffentlichen. Darüber hinaus wird verbotene Literatur abgeschrieben und verbreitet.
Als unverfängliches Fachbuch getarnt kann auch verbotene Literatur zwischen den Buchdeckeln in der Öffentlichkeit gelesen werden. (Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf)
Einen wichtigen Einfluss auf die Etablierung des Samisdat haben junge Künstler Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre. Sie wollen sich nicht mehr den Regeln des staatlichen Kulturbetriebs unterwerfen und probieren selbstbestimmt neue Ausdrucksformen aus. Darüber hinaus ist es für viele Künstler die einzige Möglichkeit zur Veröffentlichung.
Im Berliner Prenzlauer Berg und in Dresden entstehen 1979 erste Grafik-Lyrik Mappen. Es folgen Dichter-Maler Bücher. Erste Periodika werden 1982 in Dresden („UND“) und Berlin („Entwerter-Oder“) herausgegeben.
Bild: UND, Nr.5, November 1982 Quelle: ABL
Eine Samisdat-Kultur entwickelt sich in der DDR jedoch sehr viel später als in Polen, Ungarn, der ČSSR oder der Sowjetunion. Ein entscheidender Grund dafür ist die parallel existierende westdeutsche Medienkultur. Ab Anfang der 1980er Jahre werden jedoch gezielt die Gesetzeslücken im „Genehmigungsverfahren für die Herstellung von Druck- und Vervielfältigungserzeugnissen“ (Druckgenehmigungspflicht) ausgenutzt. Eine Ausnahme bilden demnach Drucke für den „inneren Dienstgebrauch“. Diesen Passus nutzen Basisgruppen, um unter dem Dach der Kirche ihre Informationen zu streuen.
Mit dem Gesetz über die „Druckgenehmigungspflicht“ von 1959 wird das SED-Meinungsmonopol zur Staatsdoktrin. Dementsprechend ist alles, was außerhalb dessen erscheint, per se „antisozialistisch“. Im Selbstverständnis der SED und ihres Geheimdienstes gehört jeder, der im Samisdat veröffentlicht, automatisch einem politischen Untergrund an - unabhängig vom textlichen Inhalt oder der künstlerischen Darstellung. |
Die Entwicklung der Opposition ist stark an die Professionalisierung von Herstellungsverfahren des Samisdat gebunden. Das Basisverfahren ist eine Abschrift mit Schreibmaschine und Kohlepapier. Dies ermöglicht 4 bis 6 Exemplare. Bestehen Untergrundpublikationen lange Zeit aus Durchschlägen von Schreibmaschinenseiten, so entwickeln sich in den 1980er Jahren Periodika. Nahezu ohne Bildanteil werden die Zeitungen im Ormig– oder Wachsmatrizenverfahren hergestellt. Druckmaschinen kommen über verschiedene Kanäle aus dem Westen.
Mit dem heutigen Blick erinnern die technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung an die Vor-Gründerzeiten des Buchdrucks.
Vom Kohlepapier zur Wachsmatrize
Schreibmaschine |
Ormig |
Wachsmatrize |
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Grenzfall 5/1987, Quelle: ABL
Die technischen und finanziellen Mittel bleiben „primitiv“. Trotzdem erscheinen bis 1989 ca. 190 verschiedene Zeitschriften mit Auflagen von 100 bis 4.000 Exemplaren.
Ab Mitte der 1980er Jahre wächst die Anzahl verschiedener Periodika rasant an. Diese „zweite Öffentlichkeit“ oder „Gegenöffentlichkeit“ erreicht nun über die „dissidentische Szene“ hinaus ein sympathisierendes Umfeld. Der Samisdat schärft das Bewusstsein für notwendige Reformen des gesellschaftlichen Systems.
Karim Saab: „Wir machen hier nichts heimlich. Wir machen das einfach.“
Karim Saab gehörte zu den Herausgebern des „Anschlag“. „Anschlag“ als Wortspiel meinte die Explosion, den Schreibmaschinenanschlag, den Aushang.
Die Zeitschrift erschien von 1984 bis 1989 und verband Kunst mit Politik. Sie war eine von der Kirche unabhängige Samisdat-Zeitschrift und etablierte sich für manchen Kunstliebhaber zum Sammelobjekt. (Lebenslauf: Karim Saab)
Anschlag IX, 1987: Leseprobe (Auszüge)
Der Einband besteht aus gepressten Eierverpackungen. Es sind Grafiken im Siebdruckverfahren enthalten. Texte stehen auf sehr holzhaltigem Papier und auf dünnem Durchschlagpapier. Dieses wird verwendet, um mit der Schreibmaschine möglichst viele Exemplare („Kopien“) produzieren zu können – alles Materialien, die gleichzeitig den Mangel in der DDR dokumentieren.
Leseprobe herunterladen (PDF)
Während der vielfältige Samisdat Mittel-Osteuropas nach 1989 Teil der Kulturgeschichte der einzelnen Länder geworden ist, findet der DDR-Samisdat bis auf wenige Ausnahmen kaum Beachtung in der gesamtdeutschen Wahrnehmung.
Leipzig, 23.10.1989: „Gorbi, Hilf uns!“
Als Mitte der 1980er Jahre durch Gorbatschows Glasnost-Politik in der Sowjetunion ein liberaleres Klima entsteht, werden auch in der DDR Hoffnungen wach. Schließlich folgte die SED dem „Großen Bruder“ bisher wie ein Schatten.
Doch die Partei- und Staatsführung distanziert sich immer zunehmender und unterdrückt die neuen Töne aus Moskau im eigenen Land.
September/1988: Letzte Ausgabe des „Sputnik“
Vorläufiger Höhepunkt der Ablehnung der sowjetischen Reformen bildet das Verbot des sowjetischen Auslandsmagazins „Sputnik“, das seit 1967erscheint. Der Digest der sowjetischen Presse bringt Artikel aus Kultur, Politik und Wissenschaft und will damit die Vielfalt des riesigen Landes dokumentieren. Mit der gewachsenen Pressefreiheit greift auch der „Sputnik“ zunehmend kritische Themen auf. Ein Hauptthema ist die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit.
Das Interesse der DDR-Bevölkerung an dieser Zeitschrift nimmt immer mehr zu. Die Auflage der deutschen Ausgabe steigt auf 180.000 Exemplare. Die SED-Führung kann sich zunächst nicht entschließen, etwas gegen dieses „trojanische Pferd“ zu unternehmen.
Die Oktoberausgabe 1988 wird jedoch nicht ausgeliefert. In sechs Artikeln wird die Rolle Stalins im „Großen Vaterländischen Krieg“ thematisiert. Die von der SED tabuisierten historischen Vorgänge rütteln am Mythos des heroischen Antifaschismus.
Als jedoch in der Novemberausgabe 1988 ein Artikel über den von der DDR-Geschichtsschreibung verschwiegenen Hitler-Stalin-Pakt erscheint, ist das Maß voll. Der Vertrieb der Zeitschrift wird eingestellt. Die Bevölkerung erfährt davon in einer kleinen Zeitungsnotiz.
Quellen der Zitate: BStU
Die Menschen fühlen sich bevormundet und für politisch unmündig erklärt. Der Protest bleibt zwar oft spontan und unkoordiniert, erreicht aber eine neue Qualität. In Betrieben treten ganze Abteilungen geschlossen aus der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ aus. Zahlreiche SED-Genossen geben ihr Parteibuch ab. An Wandzeitungen werden Proteste ausgehängt. In Leuna gibt es mehrstündige Arbeitsniederlegungen. An den Universitäten in Berlin, Halle und Jena kommt es zum offenen Protest. Während einer Opernaufführung des „Barbier von Sevilla“ in Dresden wird vom Text abgewichen: Graf Almavia habe jetzt Zeit zum Rasieren, da er immer den „Sputnik“ gelesen hat …
Dazu werden zwischen Rügen und Erzgebirge Eingaben geschrieben – selbst von Stasi-Mitarbeitern.
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Die vielfältigen neuen Impulse aus der Sowjetunion erscheinen der SED-Führung fremd und bedrohlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln bedeutet für sie einen Gesichts- und Machtverlust. Die Ereignisse im Herbst 1988 sind für die Menschen nur ein weiterer Beleg dafür, dass die „alten Männer“ im Politbüro die Zeichen der Zeit nicht verstehen.
Praktisch als Antipode zu Gorbatschow propagiert Honecker seit Ende 1988 den DDR-Nationalkommunismus – ähnlich wie in Rumänien und Albanien. Gehörte „Internationalität“ bisher zum Wesen des „Sozialismus“, gibt es jetzt einen „Sozialismus in den Farben der DDR“.
„Alles in allem: Sozialismus in den Farben der DDR bedeutet, daß es sich gut leben läßt.“
Erstmals fällt die Floskel am 11.11.1988 durch Honecker bei einem Empfang von erfolgreichen Olympiasportlern. Die Ursache der sportlichen Erfolge sei der „Sozialismus in den Farben der DDR“.
Die SED-Politik wird in der Folge spöttisch mit „Farbenlehre à la Honecker“ umschrieben.
Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM): „Die Teilnahme unabhängiger Gruppen wäre unbedingt erforderlich.“
Auch innerhalb der oppositionellen Gruppen werden die sowjetischen Reformen aufgegriffen. Die IFM nimmt den Besuch Gorbatschows anlässlich eines Treffens der Warschauer-Pakt-Staaten in Ostberlin zum Anlass, die Beteiligung der Friedensbewegung und der demokratischen Opposition bei Entscheidungen einzufordern. (Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft)
Graffiti (Perestroika) in Leipzig | Quelle: ABL / J. Tallig
Nach Querelen mit der Kirchenleitung über die Inhalte der Leipziger Friedensgebete im Sommer 1988 erobern junge Leute den außerkirchlichen Raum. In Anlehnung an das 1988 im SED-Verlag „Dietz“ erschienene Buch von Gorbatschow nennen sie sich Gruppe „Neues Denken“. Sie nutzen die Spielräume, die der offiziell anerkannte „Kulturbund“ bietet aus und etablieren eine eigene Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Dialog“. In der Gruppe arbeiten keine Christen mit. Sie besteht vor allem aus Studenten, die z.T. Parteimitglieder der SED sind.
In Anlehnung an die sowjetischen Reformen, wollen sie eine Demokratisierung in der DDR erreichen.
Veranstaltungsbeispiele der Gruppe „Neues Denken“ innerhalb des Kulturbundes der DDR, 1988/89 | Quelle: ABL
Jürgen Tallig: „Die Diskussionen wurden mit Mikros nach draußen übertragen.“
Jürgen Tallig gehört zu den Initiatoren der Gruppe. Er berichtet von dem großen Erfolg der Veranstaltungsreihe. Wohlwissend, dass die Staatssicherheit jedesmal dabei ist, agiert die Gruppe vollkommen offen. Nach ihrem Selbstverständnis tun sie nichts Verbotenes.
Die Gruppe „Neues Denken“ wird auch zur Beobachtung der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 aktiv. Parallel zu den kirchlichen Gruppen nehmen sie in Leipziger Wahllokalen an der Auszählung der Stimmen teil und machen ihre Ergebnisse zu den Wahlfälschungen öffentlich.
Sie sind ebenfalls bei der Gründung des Neuen Forums in Leipzig beteiligt. Die von Mitgliedern der Gruppe begonnene Einrichtung einer Bibliothek und eines Lesecafes wird ab Oktober 1989 als erstes Büro des Neuen Forum genutzt.
Im Wohnhaus von Jürgen Tallig in der Leipziger Dreilindenstraße befindet sich das erste Büro des Neuen Forums | Quelle: ABL / Chr. Boy
Stalinismus meint die Herrschaftsausübung der durch Stalin kultivierten Strukturen des Machterhalts und Machtausbaus. Reale und vor allem eingebildete politische Gegnerschaft bedeutet deren physische Vernichtung.
Diese Mechanismen werden nach dem 2. Weltkrieg auf die besetzten Länder übertragen. Der Name des Staats- und Parteichefs in der Sowjetunion wird so zum Synonym eines ganzen gesellschaftlichen Systems.
Propagandistische Rechtfertigung bildet die Annahme eines permanent zu führenden „Klassenkampfes“ - die Feinde des Sozialismus sind überall. Dieser stalinistische Klassenkampf-Mythos prägt die SED bis zum Herbst 1989.
Durch die internationalen Rahmenbedingungen nach dem 2. Weltkrieg kann die DDR nur an der Seite der Sowjetunion als Besatzungs- und Hegemonialmacht bestehen. Die Selbstbestimmung des ostdeutschen Staates orientiert sich zwangsläufig an den Vorgaben aus Moskau. Mit Propaganda und der gesellschaftlich verlangten Mitgliedschaft in der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF) wird den Menschen eine Interessengleichheit mit der UdSSR verordnet.
Im Herbst 1989 finden überall in der DDR „Dialoge“ mit der Staatsmacht statt. Die SED versucht zu retten, was zu retten ist.
Im Leipziger „academixer-Keller“ wird am 15.11.1989 über den Stalinismus in der DDR diskutiert. Erste wissenschaftliche Erklärungsversuche unterstellen der SED die Fähigkeit zur historischen Aufarbeitung. Doch für die Menschen sind die SED und der Stalinismus längst synonyme Begriffe geworden. (Quelle: ABL)
Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Zum Eigennamen eines ganzen Systems von Repressionen, Haft und Zwangsarbeit wird der Begriff „Gulag“. Neben Strafe und Disziplinierung bilden die Arbeitslager eine feste Größe im sowjetischen Wirtschaftssystem.
Gulag - Главное Управление Лагерей - Glawnoje Uprawlenije Lagerje – Hauptverwaltung der Lager |
Seit Ende der 1920er Jahre bis Mitte der 1950er Jahre (Stalins Tod) erstrecken sich über die gesamte Sowjetunion ganze Lagerkomplexe.
Quelle: Memorial/Moskau
Durch den sowjetischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn („Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, 1962; „Der Archipel Gulag“, 1973) werden einer internationalen Öffentlichkeit die Haft- und Arbeitsbedingungen im Gulag bekannt. Der Einzelne kann zugunsten des Staates vernichtet werden. Der Tod von Menschen wird billigend in Kauf genommen.
Die Entwicklung in der SBZ und frühen DDR ist stärker mit dem sowjetischen Repressionsapparat verbunden als in den anderen Satellitenstaaten. Die politische Absicherung der neuen Ordnung obliegt über mehrere Jahre allein der sowjetischen Besatzungsmacht. Loyale Institutionen (Volkspolizei, Staatssicherheit) arbeiten ihr diesbezüglich zu.
Kultur- und Bildungsangebot der Staatssicherheit der DDR,1987 | Quelle: ABL
Die Staatssicherheit versteht sich in der Tradition des sowjetischen Geheimdienstes.
Die sowjetischen Speziallager in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) unterstehen seit 1948 der Lager-Hauptverwaltung Gulag des Moskauer Innenministeriums. Menschen, die mit der Besatzungsmacht in Konflikt geraten, unterliegen damit der sowjetischen Gerichtsbarkeit. Die meist konstruierten Anklagen lauten „Spionage“, „konterrevolutionäre Tätigkeit“ oder „antisowjetische Agitation“. Das Urteil spricht ein sowjetisches Militärtribunal.
Die Auslieferung von DDR-Bürgern an die Sowjetunion widerspricht geltendem Völkerrecht.
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