Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Die Themenblöcke zur Sowjetunion

In jeder Mangelsituation oder durch jedes Verbot entstehen Formen der Selbstorganisation.
Das Bedürfnis zu reisen, ist auch in der DDR sehr groß. Seit den 1970er Jahren nutzen immer mehr Abenteurer und Bergsteiger die Schwächen der Bürokratie aus, um den kleinen „legalen“ Reisehorizont zu erweitern und in die große Sowjetunion zu kommen. Grundlage für derartige „Grenzüberschreitungen“ bildet das kaum bekannte Abkommen über den visafreien Reiseverkehr von 1964.

Quelle: ABL

Vor allem Bergsteiger, deren Ziele der Kaukasus oder die Hochgebirge Mittelasiens sind, besorgen sich über sowjetische Beziehungen eine Einladung, was ein sehr aufwendiges bürokratisches Procedere bedeutet. Das sowjetische Innenministerium legt u.a. eine „Маршрут“ (Marschrut) fest, von der die Gruppen nicht abweichen dürfen. Auf Grund ihres Äußeren (und Gepäcks), das nicht in das mittelasiatische Bild passt, werden sie schnell von der Polizei als Ausländer erkannt und müssen sich permanent „ausweisen“. Doch einmal in den Bergen befindet man sich in einem gewissen „Machtvakuum“ und kann sich relativ frei bewegen.

Georg Renner: Biwak auf dem Dach der Welt, 1975 | Quelle: PrivatDer in der sowjetischen Bergsteiger-Szene bekannte Georg Renner aus Magdeburg liefert durch seine Reisen in den 1960/70er Jahren erste Erfahrungsberichte für nachfolgende Expeditionen. Seine Bücher gehen von Hand zu Hand. Die darin selbstgefertigten Landkarten bilden bis in die 1980er Jahre die Grundlage für manche Bergbesteigung, da die Sowjetunion aus militärstrategischen Gründen kaum Kartenmaterial produziert.
Weitere „Orientierungsmittel“ finden sich in DDR-Bibliotheken. Hier gibt es mitunter noch Material von deutschen Geologen, die vor dem 1. Weltkrieg das Gebiet bereisten.
Eine Expedition in den Pamir, Tienschan oder Fan-Gebirge setzt bei den Teilnehmern neben dem sportlichen Vermögen eine hohe Fähigkeit zur Improvisation und Flexibilität voraus.

 

Buchempfehlung

Transit - Illegal durch die Sowjetunion  Unerkannt durch Freundesland

Eine subversive und abenteuerliche Reise ist mit einem Transitvisum möglich. Mit der notwendigen „Reiseanlage für den visafreien Verkehr“ nutzt man die Sowjetunion als Transitland auf seinem Weg nach Rumänien oder Bulgarien, ohne dass sowjetische Behörden eingeschaltet werden müssen. Der Inhaber ist berechtigt, sich drei Tage in der UdSSR aufzuhalten. Einmal in der Ukraine schlägt man sich auf eigene Faust „unerkannt“ durch das riesige „Freundesland“ durch. Wochen später führt der Weg meist über Rumänien zurück. Bei der Ausreise zahlt man in aller Regel ein Bußgeld in Höhe von 30 bis 300 DDR-Mark wegen Überziehung der Aufenthaltsdauer.
Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wird diese Lücke in der Reiseregelung zu einer permanent anwachsenden „Unerkannt durch Freundesland“ – Bewegung (UdF). Die Ziele und Unternehmungen werden immer spektakulärer und führen weit über das Baltikum und die Gebirge Mittelasiens hinaus nach Kamtschatka, China, die Mongolei …

 

  • 1Duschanbe 1977
  • 10Georgien 1989
  • 2Duschanbe 1977
  • 3Fangebirge 1977
  • 4Pamir 1985
  • 5Pamir 1985
  • 6Pamir 1985
  • 7Pamir 1985
  • 8Samarkand 1982
  • 9Tatschikistan 1985

Einfallsreichtum ist von Nöten, um den vielen möglichen Kontrollen nicht ins „Messer“ zu laufen. Kommt man in Mittelasien noch gut und gern als „Balte“ durch, müssen bei anderer Gelegenheit „Legenden des Hierseins“ erfunden werden. Manchmal wollen sich Milizionäre nicht unnötig Arbeit aufladen oder gar sich ihrem Vorgesetzten verantworten müssen und schieben die UdFler in die benachbarte Sowjetrepublik ab.

Sozialversicherungs-Buch der DDR | Quelle: PrivatAls beeindruckendes „Reisedokument“ bei Kontrollen dient der DDR-Sozialversicherungsausweis. Das für diesen Zweck eigentlich belanglose Büchlein wirkt jedoch von der Größe und dem eingestanzten DDR-Emblem wie ein richtiger Pass. Echtheit und Autorität suggerieren die vielen Stempel und Unterschriften von Arztbesuchen, Blutspenden, Verdienstbescheinigungen. Lesen kann sie der sowjetische Polizist sowieso nicht.

 

Karim Saab: „Ich hatte bis dahin noch nie was von Tschetschenien gehört.“
Fünf mal reiste Karim Saab in den 1980er Jahren illegal in die Sowjetunion. Im Vorfeld wurden Einladungen und Stempel gefälscht, um die Kontrollen in dem „absurden“ Land zu überstehen. Unbekannte Kulturen erweitern das Weltbild. In der Sowjetunion konnte Karim Saab sein Fernweh stillen. (Lebenslauf: Karim Saab)

Ungezählte Menschen nehmen sich die Freiheit, auf ihre Art zu reisen. Alle kommen mit bisher nicht bekannten Kulturen in Berührung und lernen eine andere Wirklichkeit als die der kleinen DDR kennen. Die vielen schönen Erlebnisse und die oft erfahrene Herzlichkeit der einheimischen Bevölkerung relativieren die eigenen Wertvorstellungen.
Darüber hinaus entstehen jenseits der sozialistischen Propaganda und den leeren Worten von der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ neue Weltbilder von der „Großen Ruhmreichen“: Korruption, Armut, ethnische Konflikte, staatliche Verbrechen.

Das Überwinden einer territorialen Demarkationslinie ist das Eine - die unkonventionellen und subversiven Erfahrungen von Freiheit, Abenteuer und Ferne reisen mit zurück in die DDR. Der autoritären Staatsmacht ein „Schnippchen“ geschlagen zu haben, relativiert den Respekt vor ihr.

 

Lebenslauf: Karim Saab

  • geb. 1961 in Heidelberg
  • Übersiedlung der Mutter nach Radebeul 1965 / 66
  • 1977 Buchhändlerlehre in Leipzig
  • Musikedition Peters für 13 Monate
  • Museum für Völkerkunde
  • Theologiestudium in Naumburg
  • Anfang der 1980er Gründung von Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“
  • Totalverweigerung des Militärdienstes
  • Herausgeber des Samisdat „Anschlag“
  • Mai 1989 Ausreise in die Bundesrepublik
  • Seit 1992 Journalist in Potsdam

 

Vertuschung und Verharmlosung

Quelle: ČTKAm 26. April 1986 explodiert Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl (Ukraine). Die nukleare Katastrophe löst weltweit einen Schock aus und stellt die Nutzung der Atomenergie generell in Frage.
In der DDR ist die SED in massiven Erklärungsnöten. Einerseits ist man aus Loyalität der Sowjetunion gegenüber verpflichtet, deren Nachrichtensperre zu befolgen, zum anderen muss man auf den „Wissensvorsprung“ in den DDR-Wohnzimmern durch die Westmedien reagieren.

 

PDF Download: Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk Bild: vusta/iStockphoto„Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk“
Eine „Randnotiz“ auf Seite fünf erwähnt den GAU in der Ukraine. Am nächsten Tag räumt man auf der ersten Seite das „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ ein.

 

In den ersten Tagen nach der Havarie wird die Katastrophe nicht nur in der DDR verharmlost. In ihrer Erklärungsnot kommen der SED die Dementis der westlichen Atomlobby gerade recht. Doch die Auswirkungen der Katastrophe lassen sich nicht mehr vertuschen. Die radioaktive Wolke erstreckt sich über weite Teile Europas.


Quelle: Neues Deutschland, 3./4.5.1986

Die Gefahren für die eigene Bevölkerung werden durch die SED heruntergespielt. Die veröffentlichten Messdaten unterscheiden sich z.T. um das 75-fache gegenüber den gesammelten Daten der Staatssicherheit. Einer besonders starken Belastung sind die Bezirke Dresden und Cottbus ausgesetzt. Statt Grenzwerte festzulegen, formuliert die DDR-Führung intern „Richtwerte“. Schutz- und Vorsorgeentscheidungen werden nicht getroffen.
Über die Ausmaße der Strahlenbelastung in Mitteleuropa kann man sich nur über die westdeutschen Medien informieren.

Ost-Berlin, 1986, Quelle: BundesarchivAls in den Kaufhallen auf einmal ein für die Jahreszeit ungewöhnliches Gemüseangebot ausliegt, kaufen es viele Menschen nicht. Ihnen ist klar, dass es sich um Produkte handelt, deren Import in die Bundesrepublik wegen der Strahlenbelastung beschränkt wurde.
Daraufhin werden Salate an Schulküchen weitergeleitet.

 

Die vollkommen inakzeptable Informationspolitik der SED erzeugt Wut. Zwar gehört die „Hofberichterstattung“ in der DDR zum Alltag, doch jetzt empfinden es die Menschen ganz elementar, wie egal dem System das Wohl des Einzelnen ist. Entgegen der Ideologie besitzen die ökonomischen Interessen eine höhere Priorität als der Schutz der Bevölkerung. Aus diesem Grund erklärt die SED die Daten zur Umweltverschmutzung schon seit den 1970er Jahren zum Staatsgeheimnis.

 

Sensibilisierung für Umweltthemen

Friedensgruppen protestierten bisher gegen die atomare Kriegsgefahr. Jetzt wird auch die zivile Nutzung der Kernenergie in Frage gestellt und der Ausstieg aus der Atomkraft gefordert. Das Themenspektrum der Arbeit erweitert sich. Friedensgruppen beschäftigen sich mit Umweltthemen und Umweltgruppen werden politischer.

Als unmittelbare Reaktion auf das Informationsdefizit im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe gründet sich 1986 die Ost-Berliner Umweltbibliothek unter dem Dach der Zionskirchgemeinde. Ab Juni 1986 erscheinen monatlich die „Umweltblätter“ – eine von vielen neu entstehenden Samisdat-Zeitschriften.

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Umweltblätter der Umweltbibliothek Ost-Berlin, Juni 1986, Quelle: ABL

Für Teile der verunsicherten Bevölkerung dienen Umweltgruppen als Anlaufpunkt, um unabhängige Informationen zu bekommen. Damit einher geht die stärkere Wahrnehmung dieser Gruppen im Land. Es steigt die Sensibilität für Umweltprobleme im eigenen Umfeld, die nun offener thematisiert werden.

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Ausstellung zum Umweltgottesdienst in Deutzen am 12.6.1988; Quelle: ABL/B. Heinze

In vielen Städten etablieren sich „Umweltbibliotheken“ als unabhängige Informationsräume unter dem Dach der Kirche. Die bedeutendste ist die in Berlin. Ziel ist die Schaffung von Öffentlichkeit, um die Bevölkerung zu sensibilisieren und damit den Handlungsdruck auf die Staatsmacht zu erhöhen.

Quelle: ABL

Die Umweltthemen gehen über die Atomkraft hinaus. Die Probleme in der DDR sind für jeden greifbar, denn der Verfall und die Zerstörung von Lebensraum vollziehen sich im persönlichen Lebensumfeld. All diese Probleme spielen plötzlich eine bedeutendere Rolle als zuvor.

Mondlandschaft - durch einen Braunkohletagebau im Raum Cottbus, August 1984; Quelle Bundesarchiv

In vielfältigen Aktionsformen lassen sich für Umweltthemen die meisten Menschen mobilisieren: Demonstrationen, Fahrradkorsos, Ökologie-Seminare, Informationsveranstaltungen, Eingaben, Unterschriftensammlungen, Baumpflanzaktionen. In der gesamten DDR widersetzen sich Menschen der Tabuisierung dieser Problematik durch den Staat.

Bernd Albani: „Das war immer eine höchst politische Sache.“


Als Pfarrer in Frauenstein (Osterzgebirge) etablierte Bernd Albani bereits 1983 eine Umweltgruppe. Das Waldsterben sah man vor der Haustür. Die intensive Landwirtschaft (Gülle) erhöhte den Nitratgehalt von Grund- und Trinkwasser. Durch die Hüttenindustrie im Freiberger Raum war die ganze Gegend durch Schwermetalle belastet.
Die Gruppe versuchte, eine Öffentlichkeit für diese Probleme herzustellen. (Lebenslauf: Bernd Albani)

Der 5. Juni ist der Weltumwelttag und ein symbolträchtiges Datum für unterschiedlichste Proteste:


Aufnäher zum Pleiße-Gedenkmarsch 1988; Quelle: ABLz. Bsp.: Leipzig, „Pleiße-Gedenkumzug“ 1988 und 1989
Der Pleiße-Fluss fließt durch Leipzig und ist durch die Ableitung von Abprodukten der kohlechemischen Industrie eine „Kloake“ geworden: Verfärbung, Gestank, starke Schaumbildung, ohne Leben. Eine Demonstration wird von kirchlichen Basisgruppen organisiert. Die Staatsmacht greift 1988 nicht ein. Im Jahr darauf (4.6.) verhindert sie den Protestmarsch. Zahlreiche Teilnehmer werden zeitweilig festgenommen.

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Das Thema „Kernenergie“ bleibt in Regionen, die von Bauten neuer AKWs betroffen sind, aktueller denn je. In Stendal und im Dreieck Leipzig-Dahlen-Oschatz formiert sich ein breiter Protest.

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Energie ist in der DDR kostbar. Die ineffizienten Kohlekraftwerke können den Bedarf nur auf Kosten von Mensch und Umwelt decken. Die Lösung heißt Atomstrom. In Stendal laufen die Bauarbeiten für ein Kernkraftwerk auf Hochtouren. Der erste Block soll 1991 ans Netz gehen, sieben weitere sollen folgen. In Börln (Dahlener Heide), nordöstlich von Leipzig, ist ein weiteres Atomkraftwerk in Planung.

Beide Projekte werden durch die Friedliche Revolution gestoppt.

Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
 

Grün-ökologische Netzwerk „Arche“

Von Akteuren aus der Berliner Umweltbibliothek kommt im November 1987 der Vorschlag, die vielen, oft separat agierenden, Umweltgruppen in der DDR zusammenzuschließen. Damit soll die Effizienz der Arbeit verbessert werden. Fachliche und materielle Ressourcen können gebündelt, der Informationsfluss verbessert werden.

Carlo Jordan, 1990, Quelle: BundesarchivIm Januar 1988 kommt es in der Wohnung von Carlo Jordan zur Gründung des „Grün-ökologischen Netzwerk Arche“. Die Gründung steht im Zusammenhang mit dem unabhängigen Netzwerk „Greenway“ in Osteuropa. Seit 1987 gibt es personelle Kontakte und man sucht jetzt den internationalen Anschluss.
In Anlehnung an die landeskirchlichen Strukturen organisiert sich das Netzwerk über einen föderalen Aufbau. Die jeweiligen Sprecher treffen sich in Berlin. Grundlage bildet eine verbindliche Mitgliedschaft.

 

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Im Samisdat bringt das Netzwerk arche-Info und ab Juli 1988 Arche Nova heraus | Quelle: ABL

 

PDF Download: Arche Nova 1, Juli 1988 Bild: vusta/iStockphoto„Die Idee des Netzwerkes ist in unser aller Interesse, wie die Erfahrungen mit Netzwerken in Polen, Ungarn, und der SU zeigen.“
In der ersten Nummer der „Arche Nova“ wird der Gründungsaufruf veröffentlicht. Das Netzwerk Arche muss sich mit dem Vorwurf einiger basisdemokratischer Gruppen auseinandersetzen, parteiähnliche Organisationsstrukturen aufzubauen.

Mit Hilfe von Wissenschaftlern und Fachleuten gelingt es erstmalig, die geheimen Bestimmungen über den Umgang mit Umweltdaten zu veröffentlichen. Im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen nutzt das Netzwerk Arche auch das Potential der Ausreisebewegung. Verfügt manch einer doch über mehr Fachinformationen als die gesellschaftlich ausgegrenzten Oppositionellen.

„Bitteres aus Bitterfeld“


Die spektakulärste Aktion der Arche ist der Film „Bitteres aus Bitterfeld“. Er dokumentiert die katastrophale Umweltsituation verursacht durch die DDR-Chemieindustrie. Unter strenger Geheimhaltung wird die Dokumentation im Juni 1988 im Bitterfelder Raum gedreht und nach Westberlin gebracht. Zahlreiche westdeutsche Sender bringen den Beitrag. In der DDR löst der Film eine große Betroffenheit aus.
Der Piratensender „Radio Glasnost“ gibt in seiner Sendung vom 25.10.1988 verschiedene Stimmen zum Film wieder (Ausschnitt).

Anfang 1989 plant das Netzwerk Arche eigene Kandidaten bei den bevorstehenden Kommunalwahlen am 7.5.1989 in einer „Grünen Liste“ aufzustellen. Trotz der ausweglosen Situation verhelfen die Aktionen im Zusammenhang mit der Wahlmanipulation der Opposition zum Durchbruch.

Quelle: ABL“ title="Quelle: ABL

Das grün-ökologische Netzwerk bildet die strukturellen und personellen Voraussetzungen für die Gründung der „Grünen Partei“ in der DDR im November 1989.

Neben der Friedensbewegung, kirchlicher, subkultureller und informeller Gruppen bilden die Umweltgruppen ein großes Protestpotential, das im Herbst 1989 zur friedlichen Revolution und der Demokratisierung des SED-Staats beiträgt.

 

Lebenslauf Bernd Albani

  • geb. 1944 in Dresden
  • Berufsausbildung zum Physiklaboranten am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf
  • 1963 – 1968 Physikstudium an der Technischen Universität Dresden
  • 1968 – 1970 Aspirant an der Lomonossow - Universität Moskau
  • 1970 – 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden
  • 1973 Dissertation zur Theorie des Festkörpermagnetismus
  • 1976 – 1980 Theologiestudium am Theologischen Seminar Leipzig
  • 1980 – 1982 Vikariat in Leipzig
  • 1982 – 1989 Pfarrer in Frauenstein
  • Mitbegründer eines kirchlichen Arbeitskreises Frieden und Umwelt in der Region, Mitglied der sächsischen Landessynode (1984-89), "Konkret für den Frieden"
  • Okt. 1989 Pfarrer der Gethsemane-Gemeinde Berlin
  • 1989 – 1991 Sprecher des Neuen Forum Berlin Prenzlauer Berg
  • Bis zum Ruhestand Pfarrer in verschiedenen Berliner Gemeinden

 

Samisdat als Gegenöffentlichkeit

Samisdat, der: - (russ.) - Selbstverlag

„Man schreibt selbst,
man redigiert selbst,
man zensiert selbst,
man verlegt selbst,
man verteilt selbst und
sitzt auch selbst die Strafe dafür ab.“
(Wladimir Bukowski)

Samisdat in Mittel-Osteuropa -Ausstellungskatalog der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, 2000Das Wort hat seinen Ausgang in der Sowjetunion der 1940er Jahre, als der Dichter Nikolai Glaskow seine Gedichte als handgeschriebene Exemplare unter dem Namen „Samsebjaisdat“ (Sich-selbst-Verlag) herausgibt. Verkürzt auf „Samisdat“ wird das Wort im internationalen Gebrauch zum Inbegriff der inoffiziellen Publikation und Verbreitung des unzensierten Wortes.
Der junge Journalist Alexander Ginsburg macht 1959 den Samisdat zur unabhängigen „Institution“, indem er ein Periodikum schafft. In „Syntaxis“ werden außerdem zum ersten Mal mehrere verbotene Autoren veröffentlicht (Almanach).
Der Menschenrechts-Samisdat entsteht 1964 als der junge Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger (1987) Josef Brodsky verurteilt wird. Die Mitschrift des Prozesses wird in tausenden Exemplaren in der ganzen Sowjetunion verteilt.

Buchcover: Samisdat in Mittel-Osteuropa -Ausstellungskatalog der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, 2000

Sowjetisches Samisdat zum "Prozess der Vier", 1968; Quelle: Forschungsstelle Osteuropa Bremen, FSO 01 4 In den deutschsprachigen Raum führt das Hamburger Wochenmagazin „Der Spiegel“ den Begriff im März 1968 ein. In einem Bericht über den Gerichtsprozess gegen die Herausgeber der sowjetischen Samisdat-Zeitschrift „Phönix“ wird er mit „Selbstverlag von Untergrundliteratur“ erklärt (Der Spiegel 13/1968). Auch in der ČSSR wird im Verlauf des Prager Frühlings der "Prozess der Vier" in der Sowjetunion diskutiert.
Über diese beiden Umwege wird „Samisdat“ in der DDR bekannt.

Bild: Sowjetisches Samisdat zum "Prozess der Vier", 1968; Quelle: Forschungsstelle Osteuropa Bremen, FSO 01 4

 

Etablierung des Samisdat in der DDR

Mitte der 1970er Jahre beginnt ähnlich wie in der Sowjetunion die unabhängige Publizistik, indem Schriftsteller und bildende Künstler ihre Arbeiten im Selbstverlag veröffentlichen. Darüber hinaus wird verbotene Literatur abgeschrieben und verbreitet.

Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf
Als unverfängliches Fachbuch getarnt kann auch verbotene Literatur zwischen den Buchdeckeln in der Öffentlichkeit gelesen werden. (Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf)

Quelle: ABLEinen wichtigen Einfluss auf die Etablierung des Samisdat haben junge Künstler Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre. Sie wollen sich nicht mehr den Regeln des staatlichen Kulturbetriebs unterwerfen und probieren selbstbestimmt neue Ausdrucksformen aus. Darüber hinaus ist es für viele Künstler die einzige Möglichkeit zur Veröffentlichung.
Im Berliner Prenzlauer Berg und in Dresden entstehen 1979 erste Grafik-Lyrik Mappen. Es folgen Dichter-Maler Bücher. Erste Periodika werden 1982 in Dresden („UND“) und Berlin („Entwerter-Oder“) herausgegeben.

Bild: UND, Nr.5, November 1982 Quelle: ABL

 

Eine Samisdat-Kultur entwickelt sich in der DDR jedoch sehr viel später als in Polen, Ungarn, der ČSSR oder der Sowjetunion. Ein entscheidender Grund dafür ist die parallel existierende westdeutsche Medienkultur. Ab Anfang der 1980er Jahre werden jedoch gezielt die Gesetzeslücken im „Genehmigungsverfahren für die Herstellung von Druck- und Vervielfältigungserzeugnissen“ (Druckgenehmigungspflicht) ausgenutzt. Eine Ausnahme bilden demnach Drucke für den „inneren Dienstgebrauch“. Diesen Passus nutzen Basisgruppen, um unter dem Dach der Kirche ihre Informationen zu streuen.

Quelle: ABL

Mit dem Gesetz über die „Druckgenehmigungspflicht“ von 1959 wird das SED-Meinungsmonopol zur Staatsdoktrin. Dementsprechend ist alles, was außerhalb dessen erscheint, per se „antisozialistisch“. Im Selbstverständnis der SED und ihres Geheimdienstes gehört jeder, der im Samisdat veröffentlicht, automatisch einem politischen Untergrund an - unabhängig vom textlichen Inhalt oder der künstlerischen Darstellung.

Die Entwicklung der Opposition ist stark an die Professionalisierung von Herstellungsverfahren des Samisdat gebunden. Das Basisverfahren ist eine Abschrift mit Schreibmaschine und Kohlepapier. Dies ermöglicht 4 bis 6 Exemplare. Bestehen Untergrundpublikationen lange Zeit aus Durchschlägen von Schreibmaschinenseiten, so entwickeln sich in den 1980er Jahren Periodika. Nahezu ohne Bildanteil werden die Zeitungen im Ormig– oder Wachsmatrizenverfahren hergestellt. Druckmaschinen kommen über verschiedene Kanäle aus dem Westen.
Mit dem heutigen Blick erinnern die technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung an die Vor-Gründerzeiten des Buchdrucks.

Vom Kohlepapier zur Wachsmatrize

Schreibmaschine

Ormig

Wachsmatrize

Quelle: Privat Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf
  • schreibmaschine2-gross
  • ormig2-gross
  • wachsmatrize2-gross

 

editorial
Grenzfall 5/1987, Quelle: ABL

Die technischen und finanziellen Mittel bleiben „primitiv“. Trotzdem erscheinen bis 1989 ca. 190 verschiedene Zeitschriften mit Auflagen von 100 bis 4.000 Exemplaren.

Ab Mitte der 1980er Jahre wächst die Anzahl verschiedener Periodika rasant an. Diese „zweite Öffentlichkeit“ oder „Gegenöffentlichkeit“ erreicht nun über die „dissidentische Szene“ hinaus ein sympathisierendes Umfeld. Der Samisdat schärft das Bewusstsein für notwendige Reformen des gesellschaftlichen Systems.

Infografik Samisdat, Quelle: ABL

Karim Saab: „Wir machen hier nichts heimlich. Wir machen das einfach.“


Karim Saab gehörte zu den Herausgebern des „Anschlag“. „Anschlag“ als Wortspiel meinte die Explosion, den Schreibmaschinenanschlag, den Aushang.
Die Zeitschrift erschien von 1984 bis 1989 und verband Kunst mit Politik. Sie war eine von der Kirche unabhängige Samisdat-Zeitschrift und etablierte sich für manchen Kunstliebhaber zum Sammelobjekt. (Lebenslauf: Karim Saab)

 

Quelle: ABLAnschlag IX, 1987: Leseprobe (Auszüge)
Der Einband besteht aus gepressten Eierverpackungen. Es sind Grafiken im Siebdruckverfahren enthalten. Texte stehen auf sehr holzhaltigem Papier und auf dünnem Durchschlagpapier. Dieses wird verwendet, um mit der Schreibmaschine möglichst viele Exemplare („Kopien“) produzieren zu können – alles Materialien, die gleichzeitig den Mangel in der DDR dokumentieren.

Leseprobe herunterladen (PDF)

Während der vielfältige Samisdat Mittel-Osteuropas nach 1989 Teil der Kulturgeschichte der einzelnen Länder geworden ist, findet der DDR-Samisdat bis auf wenige Ausnahmen kaum Beachtung in der gesamtdeutschen Wahrnehmung.

Lebenslauf: Karim Saab

  • geb. 1961 in Heidelberg
  • Übersiedlung der Mutter nach Radebeul 1965 / 66
  • 1977 Buchhändlerlehre in Leipzig
  • Musikedition Peters für 13 Monate
  • Museum für Völkerkunde
  • Theologiestudium in Naumburg
  • Anfang der 1980er Gründung von Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“
  • Totalverweigerung des Militärdienstes
  • Herausgeber des Samisdat „Anschlag“
  • Mai 1989 Ausreise in die Bundesrepublik
  • Seit 1992 Journalist in Potsdam

 

„Sputnik“ - Das trojanische Pferd

Quelle: ABL / M. UlmerLeipzig, 23.10.1989: „Gorbi, Hilf uns!“
Als Mitte der 1980er Jahre durch Gorbatschows Glasnost-Politik in der Sowjetunion ein liberaleres Klima entsteht, werden auch in der DDR Hoffnungen wach. Schließlich folgte die SED dem „Großen Bruder“ bisher wie ein Schatten.
Doch die Partei- und Staatsführung distanziert sich immer zunehmender und unterdrückt die neuen Töne aus Moskau im eigenen Land.

 

Quelle: ABLSeptember/1988: Letzte Ausgabe des „Sputnik“
Vorläufiger Höhepunkt der Ablehnung der sowjetischen Reformen bildet das Verbot des sowjetischen Auslandsmagazins „Sputnik“, das seit 1967erscheint. Der Digest der sowjetischen Presse bringt Artikel aus Kultur, Politik und Wissenschaft und will damit die Vielfalt des riesigen Landes dokumentieren. Mit der gewachsenen Pressefreiheit greift auch der „Sputnik“ zunehmend kritische Themen auf. Ein Hauptthema ist die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit.
Das Interesse der DDR-Bevölkerung an dieser Zeitschrift nimmt immer mehr zu. Die Auflage der deutschen Ausgabe steigt auf 180.000 Exemplare. Die SED-Führung kann sich zunächst nicht entschließen, etwas gegen dieses „trojanische Pferd“ zu unternehmen.

 

Die Oktoberausgabe 1988 wird jedoch nicht ausgeliefert. In sechs Artikeln wird die Rolle Stalins im „Großen Vaterländischen Krieg“ thematisiert. Die von der SED tabuisierten historischen Vorgänge rütteln am Mythos des heroischen Antifaschismus.

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Neues Deutschland 19./20.11.1988Als jedoch in der Novemberausgabe 1988 ein Artikel über den von der DDR-Geschichtsschreibung verschwiegenen Hitler-Stalin-Pakt erscheint, ist das Maß voll. Der Vertrieb der Zeitschrift wird eingestellt. Die Bevölkerung erfährt davon in einer kleinen Zeitungsnotiz.

 


Quellen der Zitate: BStU

Die Menschen fühlen sich bevormundet und für politisch unmündig erklärt. Der Protest bleibt zwar oft spontan und unkoordiniert, erreicht aber eine neue Qualität. In Betrieben treten ganze Abteilungen geschlossen aus der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ aus. Zahlreiche SED-Genossen geben ihr Parteibuch ab. An Wandzeitungen werden Proteste ausgehängt. In Leuna gibt es mehrstündige Arbeitsniederlegungen. An den Universitäten in Berlin, Halle und Jena kommt es zum offenen Protest. Während einer Opernaufführung des „Barbier von Sevilla“ in Dresden wird vom Text abgewichen: Graf Almavia habe jetzt Zeit zum Rasieren, da er immer den „Sputnik“ gelesen hat …

Dazu werden zwischen Rügen und Erzgebirge Eingaben geschrieben – selbst von Stasi-Mitarbeitern.

Festival des sowjetischen FilmsZeitgleich mit dem Sputnik-Verbot verschwinden Mitte November 1988 auch sowjetische Filme aus den Kinos, die kurz zuvor beim „Festival des sowjetischen Films“ noch DDR-Prämiere hatten. Darunter Filme, die die „weißen Flecken“ der stalinistischen Vergangenheit thematisieren:
- "Die Kommissarin", 1967/87
- "Der kalte Sommer des Jahres 53", 1987
- "Morgen war Krieg", 1987
- "Das Thema", 1979
- "Die Vogelscheuche", 1987
Nachdem über eine halbe Million Menschen diese Filme gesehen haben, ist die Absetzung ein weiterer Beleg für die Ablehnung von Perestroika und Glasnost durch die SED.
Im Zusammenhang mit dem Sputnik-Verbot hagelt es Proteste - meist in Form von Eingaben.

Eintrittskarte Capitol Leipzig

Am 28. November 1988 kommt es während der traditionellen Leipziger „Dokumentar- und Kurzfilmwoche“ zu einer phantasievollen Protestaktion. Gegen 18 Uhr versammeln sich etwa 40 Menschen vor dem Kino „Capitol“ und lassen Luftballons mit der Aufschrift „Sputnik“ und den Titeln der verbotenen Filme steigen. Etwa 60 Stasi-Beamte und sechs Polizisten mischen sich unter die Protestierenden und versuchen, die Ballons mit brennenden Zigaretten zu zerstören. Die ganze Aktion dauert 30 Minuten. Wem man habhaft werden kann, wird zu einer Geldstrafe verurteilt.Quelle: ABL

Quelle: BStUAus Protest gegen das Verbot der fünf sowjetischen Spielfilme ruft der Weißenseer Friedenskreis zum Kino-Boykott auf und verklebt Plakate. Mangels Massenbeteiligung bleibt der Boykott wirkungslos.



Radio Glasnost: „Man ist total machtlos.“ Mitglieder der Initiatoren reflektieren im Piratensender der DDR-Opposition desillusionierend die Erfolgsaussichten von politischen Aktionen in der DDR. Obwohl das Verbot der Filme viele Menschen bewegt, kommt keine Massenbewegung zustande. Einzig die Staatsmacht zeigt Interesse.

 

„Sozialismus in den Farben der DDR“ - Nationalkommunismus

Die vielfältigen neuen Impulse aus der Sowjetunion erscheinen der SED-Führung fremd und bedrohlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln bedeutet für sie einen Gesichts- und Machtverlust. Die Ereignisse im Herbst 1988 sind für die Menschen nur ein weiterer Beleg dafür, dass die „alten Männer“ im Politbüro die Zeichen der Zeit nicht verstehen.

Quelle: ABL

Praktisch als Antipode zu Gorbatschow propagiert Honecker seit Ende 1988 den DDR-Nationalkommunismus – ähnlich wie in Rumänien und Albanien. Gehörte „Internationalität“ bisher zum Wesen des „Sozialismus“, gibt es jetzt einen „Sozialismus in den Farben der DDR“.

PDF Download: Farbenlehre à la Honecker Bild: vusta/iStockphoto„Alles in allem: Sozialismus in den Farben der DDR bedeutet, daß es sich gut leben läßt.“
Erstmals fällt die Floskel am 11.11.1988 durch Honecker bei einem Empfang von erfolgreichen Olympiasportlern. Die Ursache der sportlichen Erfolge sei der „Sozialismus in den Farben der DDR“.
Die SED-Politik wird in der Folge spöttisch mit „Farbenlehre à la Honecker“ umschrieben.

Witz, Comic

Glasnost und „Glasklar“ – Das „falsche“ ND

Das falsche ND

Die wichtigste Zeitung der DDR ist durch die immer gleichen Verlautbarungen auch die langweiligste. Umso erstaunter sind diejenigen, die am 19. März 1988 plötzlich ein ganz anderes „Neues Deutschland“, kurz „ND“, in der Hand halten. Da ist auf einmal in Anlehnung von Gorbatschows „Glasnost“ vom neuen „Glasklar-Kurs“ der SED die Rede. Demnach seien 5.000 politische Gefangene freigelassen, es wird über die Stilllegung der Kernkraftwerke diskutiert und die Stasi ist aufgelöst. David Bowie und Genesis spielen auf dem Berliner Alexanderplatz. Der „Playboy“ wird in Lizenz als „Spielmann“ verkauft, Flüge nach Los Angeles, Rom und Madrid können wahlweise von Tegel oder Schönefeld gebucht werden.

Quelle: ABLEs ist „glasklar“, dass es sich um eine Fälschung handelt. Unter Mithilfe von DDR-Dissidenten haben Redakteure des Hamburger Lifestyle-Magazins „Tempo“ diesen „Fake“ realisiert. In Layout und Duktus wie das Original werden etwa 6.000 Exemplare in Berlin und Leipzig in Umlauf gebracht.
Wie viel Menschen das „falsche ND“ erreicht, ist nicht zu sagen. Aber dass dessen Existenz überhaupt der Masse bekannt wird, ist der SED wieder selbst zu verdanken.
Antwort

Nach Bekanntwerden der Urheber flucht das „richtige ND“ über die „unsäglich primitive Fälschung“.
„Glasklar“, dass der DDR-Bürger, um die Einzelheiten zu erfahren, die West-Medien einschaltet.


Verbote wecken Interesse!

 

Gruppe „Neues Denken“ – Opposition außerhalb der Kirche

PDF Download: An den Generalsekretär Bild: vusta/iStockphotoInitiative Frieden und Menschenrechte (IFM): „Die Teilnahme unabhängiger Gruppen wäre unbedingt erforderlich.“
Auch innerhalb der oppositionellen Gruppen werden die sowjetischen Reformen aufgegriffen. Die IFM nimmt den Besuch Gorbatschows anlässlich eines Treffens der Warschauer-Pakt-Staaten in Ostberlin zum Anlass, die Beteiligung der Friedensbewegung und der demokratischen Opposition bei Entscheidungen einzufordern. (Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft)

Graffiti (Perestroika) in Leipzig | Quelle: ABL / J. Tallig
Graffiti (Perestroika) in Leipzig | Quelle: ABL / J. Tallig

Quelle: ABL
Quelle: ABL

Michail GorbatschowNach Querelen mit der Kirchenleitung über die Inhalte der Leipziger Friedensgebete im Sommer 1988 erobern junge Leute den außerkirchlichen Raum. In Anlehnung an das 1988 im SED-Verlag „Dietz“ erschienene Buch von Gorbatschow nennen sie sich Gruppe „Neues Denken“. Sie nutzen die Spielräume, die der offiziell anerkannte „Kulturbund“ bietet aus und etablieren eine eigene Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Dialog“. In der Gruppe arbeiten keine Christen mit. Sie besteht vor allem aus Studenten, die z.T. Parteimitglieder der SED sind.
In Anlehnung an die sowjetischen Reformen, wollen sie eine Demokratisierung in der DDR erreichen.

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Veranstaltungsbeispiele der Gruppe „Neues Denken“ innerhalb des Kulturbundes der DDR, 1988/89 | Quelle: ABL

Jürgen Tallig: „Die Diskussionen wurden mit Mikros nach draußen übertragen.“


Jürgen Tallig gehört zu den Initiatoren der Gruppe. Er berichtet von dem großen Erfolg der Veranstaltungsreihe. Wohlwissend, dass die Staatssicherheit jedesmal dabei ist, agiert die Gruppe vollkommen offen. Nach ihrem Selbstverständnis tun sie nichts Verbotenes.

Die Gruppe „Neues Denken“ wird auch zur Beobachtung der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 aktiv. Parallel zu den kirchlichen Gruppen nehmen sie in Leipziger Wahllokalen an der Auszählung der Stimmen teil und machen ihre Ergebnisse zu den Wahlfälschungen öffentlich.
Sie sind ebenfalls bei der Gründung des Neuen Forums in Leipzig beteiligt. Die von Mitgliedern der Gruppe begonnene Einrichtung einer Bibliothek und eines Lesecafes wird ab Oktober 1989 als erstes Büro des Neuen Forum genutzt.


Im Wohnhaus von Jürgen Tallig in der Leipziger Dreilindenstraße befindet sich das erste Büro des Neuen Forums | Quelle: ABL / Chr. Boy

 

Stalinismus

Stalinismus meint die Herrschaftsausübung der durch Stalin kultivierten Strukturen des Machterhalts und Machtausbaus. Reale und vor allem eingebildete politische Gegnerschaft bedeutet deren physische Vernichtung.
Diese Mechanismen werden nach dem 2. Weltkrieg auf die besetzten Länder übertragen. Der Name des Staats- und Parteichefs in der Sowjetunion wird so zum Synonym eines ganzen gesellschaftlichen Systems.

Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!

Propagandistische Rechtfertigung bildet die Annahme eines permanent zu führenden „Klassenkampfes“ - die Feinde des Sozialismus sind überall. Dieser stalinistische Klassenkampf-Mythos prägt die SED bis zum Herbst 1989.

Witz

Durch die internationalen Rahmenbedingungen nach dem 2. Weltkrieg kann die DDR nur an der Seite der Sowjetunion als Besatzungs- und Hegemonialmacht bestehen. Die Selbstbestimmung des ostdeutschen Staates orientiert sich zwangsläufig an den Vorgaben aus Moskau. Mit Propaganda und der gesellschaftlich verlangten Mitgliedschaft in der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF) wird den Menschen eine Interessengleichheit mit der UdSSR verordnet.

Verordnete Freundschaft | Quelle: ABL / R. Kühn

„Ich finde das Ganze hier sehr peinlich.“
Im Herbst 1989 finden überall in der DDR „Dialoge“ mit der Staatsmacht statt. Die SED versucht zu retten, was zu retten ist.
Im Leipziger „academixer-Keller“ wird am 15.11.1989 über den Stalinismus in der DDR diskutiert. Erste wissenschaftliche Erklärungsversuche unterstellen der SED die Fähigkeit zur historischen Aufarbeitung. Doch für die Menschen sind die SED und der Stalinismus längst synonyme Begriffe geworden. (Quelle: ABL)

Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer

 

Gulag

Zum Eigennamen eines ganzen Systems von Repressionen, Haft und Zwangsarbeit wird der Begriff „Gulag“. Neben Strafe und Disziplinierung bilden die Arbeitslager eine feste Größe im sowjetischen Wirtschaftssystem.

Gulag - Главное Управление Лагерей - Glawnoje Uprawlenije Lagerje – Hauptverwaltung der Lager

 

Seit Ende der 1920er Jahre bis Mitte der 1950er Jahre (Stalins Tod) erstrecken sich über die gesamte Sowjetunion ganze Lagerkomplexe.

Quelle: Memorial/Moskau
Quelle: Memorial/Moskau

Durch den sowjetischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn („Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, 1962; „Der Archipel Gulag“, 1973) werden einer internationalen Öffentlichkeit die Haft- und Arbeitsbedingungen im Gulag bekannt. Der Einzelne kann zugunsten des Staates vernichtet werden. Der Tod von Menschen wird billigend in Kauf genommen.

 

  • 1Gulag
  • 2Quelle: Memorial / Bundesstiftung Aufarbeitung
  • 3Quelle: Memorial / Bundesstiftung Aufarbeitung
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  • 55
Die Entwicklung in der SBZ und frühen DDR ist stärker mit dem sowjetischen Repressionsapparat verbunden als in den anderen Satellitenstaaten. Die politische Absicherung der neuen Ordnung obliegt über mehrere Jahre allein der sowjetischen Besatzungsmacht. Loyale Institutionen (Volkspolizei, Staatssicherheit) arbeiten ihr diesbezüglich zu.

>Kultur- und Bildungsangebot der Staatssicherheit der DDR,1987 | Quelle: ABL
Kultur- und Bildungsangebot der Staatssicherheit der DDR,1987 | Quelle: ABL

Die Staatssicherheit versteht sich in der Tradition des sowjetischen Geheimdienstes.

Die sowjetischen Speziallager in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) unterstehen seit 1948 der Lager-Hauptverwaltung Gulag des Moskauer Innenministeriums. Menschen, die mit der Besatzungsmacht in Konflikt geraten, unterliegen damit der sowjetischen Gerichtsbarkeit. Die meist konstruierten Anklagen lauten „Spionage“, „konterrevolutionäre Tätigkeit“ oder „antisowjetische Agitation“. Das Urteil spricht ein sowjetisches Militärtribunal.
Die Auslieferung von DDR-Bürgern an die Sowjetunion widerspricht geltendem Völkerrecht.

Hans Günter Aurich: „Häufig hat man 12 Stunden lang nichts gegessen.“


Der Student Hans Günter Aurich wird am 26.4.1952 verhaftet. Sein Vergehen: Er bespricht mit Freunden die Möglichkeit des Verteilens von Flugblättern. Wegen „antisowjetischer Propaganda“ wird er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Bis zu seiner Amnestierung 1955 muss Hans Günter Aurich in den Kohlebergwerken von Workuta arbeiten. (Quelle: ABL)

  • 1-grossUrteil des sowjetischen Militärtribunals in Moskau vom 16. Juli 1952 in einer Übersetzung von 1996
  • 2-grossDie Eltern von Hans-Günter Aurich erfahren nicht was mit ihrem Sohn geschehen ist. Anfragen bis Wilhelm Pieck und Stasichef Wilhelm Zaisser bringen keine Antwort
  • 3-grossErst Ende 1953 ist es Hans-Günter Aurich gestattet, an seine Eltern aus Workuta zu schreiben.
  • 4-grossEinen Monat später kommt die Post in Meuselwitz an. Kurz zuvor erfahren die Eltern durch einen entlassenen Mitgefangenen vom Schicksal des Sohnes. Das erste Lebenszeichen nach mehr als 20 Monaten.

WorkutaWorkuta
Der Ort ist der Inbegriff des „Gulag“. Er liegt nördlich des Polarkreises. Seit 1938 müssen Gefangene in einem weitverzweigten Lagersystem unter primitiven Bedingungen Kohle fördern und die dementsprechende Infrastruktur errichten. Auch Deutsche Kriegsgefangene und vom Sowjetischen Militärtribunal verurteilte politische Gefangene der SBZ / DDR sollen hier ihre oft lebenslangen Strafen absitzen. Nach dem Adenauer Besuch in Moskau 1955 werden die letzten deutschen Gefangenen amnestiert.

 


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