Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Vertuschung und Verharmlosung

Quelle: ČTKAm 26. April 1986 explodiert Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl (Ukraine). Die nukleare Katastrophe löst weltweit einen Schock aus und stellt die Nutzung der Atomenergie generell in Frage.
In der DDR ist die SED in massiven Erklärungsnöten. Einerseits ist man aus Loyalität der Sowjetunion gegenüber verpflichtet, deren Nachrichtensperre zu befolgen, zum anderen muss man auf den „Wissensvorsprung“ in den DDR-Wohnzimmern durch die Westmedien reagieren.

 

PDF Download: Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk Bild: vusta/iStockphoto„Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk“
Eine „Randnotiz“ auf Seite fünf erwähnt den GAU in der Ukraine. Am nächsten Tag räumt man auf der ersten Seite das „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ ein.

 

In den ersten Tagen nach der Havarie wird die Katastrophe nicht nur in der DDR verharmlost. In ihrer Erklärungsnot kommen der SED die Dementis der westlichen Atomlobby gerade recht. Doch die Auswirkungen der Katastrophe lassen sich nicht mehr vertuschen. Die radioaktive Wolke erstreckt sich über weite Teile Europas.


Quelle: Neues Deutschland, 3./4.5.1986

Die Gefahren für die eigene Bevölkerung werden durch die SED heruntergespielt. Die veröffentlichten Messdaten unterscheiden sich z.T. um das 75-fache gegenüber den gesammelten Daten der Staatssicherheit. Einer besonders starken Belastung sind die Bezirke Dresden und Cottbus ausgesetzt. Statt Grenzwerte festzulegen, formuliert die DDR-Führung intern „Richtwerte“. Schutz- und Vorsorgeentscheidungen werden nicht getroffen.
Über die Ausmaße der Strahlenbelastung in Mitteleuropa kann man sich nur über die westdeutschen Medien informieren.

Ost-Berlin, 1986, Quelle: BundesarchivAls in den Kaufhallen auf einmal ein für die Jahreszeit ungewöhnliches Gemüseangebot ausliegt, kaufen es viele Menschen nicht. Ihnen ist klar, dass es sich um Produkte handelt, deren Import in die Bundesrepublik wegen der Strahlenbelastung beschränkt wurde.
Daraufhin werden Salate an Schulküchen weitergeleitet.

 

Die vollkommen inakzeptable Informationspolitik der SED erzeugt Wut. Zwar gehört die „Hofberichterstattung“ in der DDR zum Alltag, doch jetzt empfinden es die Menschen ganz elementar, wie egal dem System das Wohl des Einzelnen ist. Entgegen der Ideologie besitzen die ökonomischen Interessen eine höhere Priorität als der Schutz der Bevölkerung. Aus diesem Grund erklärt die SED die Daten zur Umweltverschmutzung schon seit den 1970er Jahren zum Staatsgeheimnis.

 

Sensibilisierung für Umweltthemen

Friedensgruppen protestierten bisher gegen die atomare Kriegsgefahr. Jetzt wird auch die zivile Nutzung der Kernenergie in Frage gestellt und der Ausstieg aus der Atomkraft gefordert. Das Themenspektrum der Arbeit erweitert sich. Friedensgruppen beschäftigen sich mit Umweltthemen und Umweltgruppen werden politischer.

Als unmittelbare Reaktion auf das Informationsdefizit im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe gründet sich 1986 die Ost-Berliner Umweltbibliothek unter dem Dach der Zionskirchgemeinde. Ab Juni 1986 erscheinen monatlich die „Umweltblätter“ – eine von vielen neu entstehenden Samisdat-Zeitschriften.

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Umweltblätter der Umweltbibliothek Ost-Berlin, Juni 1986, Quelle: ABL

Für Teile der verunsicherten Bevölkerung dienen Umweltgruppen als Anlaufpunkt, um unabhängige Informationen zu bekommen. Damit einher geht die stärkere Wahrnehmung dieser Gruppen im Land. Es steigt die Sensibilität für Umweltprobleme im eigenen Umfeld, die nun offener thematisiert werden.

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Ausstellung zum Umweltgottesdienst in Deutzen am 12.6.1988; Quelle: ABL/B. Heinze

In vielen Städten etablieren sich „Umweltbibliotheken“ als unabhängige Informationsräume unter dem Dach der Kirche. Die bedeutendste ist die in Berlin. Ziel ist die Schaffung von Öffentlichkeit, um die Bevölkerung zu sensibilisieren und damit den Handlungsdruck auf die Staatsmacht zu erhöhen.

Quelle: ABL

Die Umweltthemen gehen über die Atomkraft hinaus. Die Probleme in der DDR sind für jeden greifbar, denn der Verfall und die Zerstörung von Lebensraum vollziehen sich im persönlichen Lebensumfeld. All diese Probleme spielen plötzlich eine bedeutendere Rolle als zuvor.

Mondlandschaft - durch einen Braunkohletagebau im Raum Cottbus, August 1984; Quelle Bundesarchiv

In vielfältigen Aktionsformen lassen sich für Umweltthemen die meisten Menschen mobilisieren: Demonstrationen, Fahrradkorsos, Ökologie-Seminare, Informationsveranstaltungen, Eingaben, Unterschriftensammlungen, Baumpflanzaktionen. In der gesamten DDR widersetzen sich Menschen der Tabuisierung dieser Problematik durch den Staat.

Bernd Albani: „Das war immer eine höchst politische Sache.“


Als Pfarrer in Frauenstein (Osterzgebirge) etablierte Bernd Albani bereits 1983 eine Umweltgruppe. Das Waldsterben sah man vor der Haustür. Die intensive Landwirtschaft (Gülle) erhöhte den Nitratgehalt von Grund- und Trinkwasser. Durch die Hüttenindustrie im Freiberger Raum war die ganze Gegend durch Schwermetalle belastet.
Die Gruppe versuchte, eine Öffentlichkeit für diese Probleme herzustellen. (Lebenslauf: Bernd Albani)

Der 5. Juni ist der Weltumwelttag und ein symbolträchtiges Datum für unterschiedlichste Proteste:


Aufnäher zum Pleiße-Gedenkmarsch 1988; Quelle: ABLz. Bsp.: Leipzig, „Pleiße-Gedenkumzug“ 1988 und 1989
Der Pleiße-Fluss fließt durch Leipzig und ist durch die Ableitung von Abprodukten der kohlechemischen Industrie eine „Kloake“ geworden: Verfärbung, Gestank, starke Schaumbildung, ohne Leben. Eine Demonstration wird von kirchlichen Basisgruppen organisiert. Die Staatsmacht greift 1988 nicht ein. Im Jahr darauf (4.6.) verhindert sie den Protestmarsch. Zahlreiche Teilnehmer werden zeitweilig festgenommen.

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Das Thema „Kernenergie“ bleibt in Regionen, die von Bauten neuer AKWs betroffen sind, aktueller denn je. In Stendal und im Dreieck Leipzig-Dahlen-Oschatz formiert sich ein breiter Protest.

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Energie ist in der DDR kostbar. Die ineffizienten Kohlekraftwerke können den Bedarf nur auf Kosten von Mensch und Umwelt decken. Die Lösung heißt Atomstrom. In Stendal laufen die Bauarbeiten für ein Kernkraftwerk auf Hochtouren. Der erste Block soll 1991 ans Netz gehen, sieben weitere sollen folgen. In Börln (Dahlener Heide), nordöstlich von Leipzig, ist ein weiteres Atomkraftwerk in Planung.

Beide Projekte werden durch die Friedliche Revolution gestoppt.

Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
Leipzig, 23.10.1989 | Quelle: ABL / Chr. Motzer
 

Grün-ökologische Netzwerk „Arche“

Von Akteuren aus der Berliner Umweltbibliothek kommt im November 1987 der Vorschlag, die vielen, oft separat agierenden, Umweltgruppen in der DDR zusammenzuschließen. Damit soll die Effizienz der Arbeit verbessert werden. Fachliche und materielle Ressourcen können gebündelt, der Informationsfluss verbessert werden.

Carlo Jordan, 1990, Quelle: BundesarchivIm Januar 1988 kommt es in der Wohnung von Carlo Jordan zur Gründung des „Grün-ökologischen Netzwerk Arche“. Die Gründung steht im Zusammenhang mit dem unabhängigen Netzwerk „Greenway“ in Osteuropa. Seit 1987 gibt es personelle Kontakte und man sucht jetzt den internationalen Anschluss.
In Anlehnung an die landeskirchlichen Strukturen organisiert sich das Netzwerk über einen föderalen Aufbau. Die jeweiligen Sprecher treffen sich in Berlin. Grundlage bildet eine verbindliche Mitgliedschaft.

 

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Im Samisdat bringt das Netzwerk arche-Info und ab Juli 1988 Arche Nova heraus | Quelle: ABL

 

PDF Download: Arche Nova 1, Juli 1988 Bild: vusta/iStockphoto„Die Idee des Netzwerkes ist in unser aller Interesse, wie die Erfahrungen mit Netzwerken in Polen, Ungarn, und der SU zeigen.“
In der ersten Nummer der „Arche Nova“ wird der Gründungsaufruf veröffentlicht. Das Netzwerk Arche muss sich mit dem Vorwurf einiger basisdemokratischer Gruppen auseinandersetzen, parteiähnliche Organisationsstrukturen aufzubauen.

Mit Hilfe von Wissenschaftlern und Fachleuten gelingt es erstmalig, die geheimen Bestimmungen über den Umgang mit Umweltdaten zu veröffentlichen. Im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen nutzt das Netzwerk Arche auch das Potential der Ausreisebewegung. Verfügt manch einer doch über mehr Fachinformationen als die gesellschaftlich ausgegrenzten Oppositionellen.

„Bitteres aus Bitterfeld“


Die spektakulärste Aktion der Arche ist der Film „Bitteres aus Bitterfeld“. Er dokumentiert die katastrophale Umweltsituation verursacht durch die DDR-Chemieindustrie. Unter strenger Geheimhaltung wird die Dokumentation im Juni 1988 im Bitterfelder Raum gedreht und nach Westberlin gebracht. Zahlreiche westdeutsche Sender bringen den Beitrag. In der DDR löst der Film eine große Betroffenheit aus.
Der Piratensender „Radio Glasnost“ gibt in seiner Sendung vom 25.10.1988 verschiedene Stimmen zum Film wieder (Ausschnitt).

Anfang 1989 plant das Netzwerk Arche eigene Kandidaten bei den bevorstehenden Kommunalwahlen am 7.5.1989 in einer „Grünen Liste“ aufzustellen. Trotz der ausweglosen Situation verhelfen die Aktionen im Zusammenhang mit der Wahlmanipulation der Opposition zum Durchbruch.

Quelle: ABL“ title="Quelle: ABL

Das grün-ökologische Netzwerk bildet die strukturellen und personellen Voraussetzungen für die Gründung der „Grünen Partei“ in der DDR im November 1989.

Neben der Friedensbewegung, kirchlicher, subkultureller und informeller Gruppen bilden die Umweltgruppen ein großes Protestpotential, das im Herbst 1989 zur friedlichen Revolution und der Demokratisierung des SED-Staats beiträgt.

 

Lebenslauf Bernd Albani

  • geb. 1944 in Dresden
  • Berufsausbildung zum Physiklaboranten am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf
  • 1963 – 1968 Physikstudium an der Technischen Universität Dresden
  • 1968 – 1970 Aspirant an der Lomonossow - Universität Moskau
  • 1970 – 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden
  • 1973 Dissertation zur Theorie des Festkörpermagnetismus
  • 1976 – 1980 Theologiestudium am Theologischen Seminar Leipzig
  • 1980 – 1982 Vikariat in Leipzig
  • 1982 – 1989 Pfarrer in Frauenstein
  • Mitbegründer eines kirchlichen Arbeitskreises Frieden und Umwelt in der Region, Mitglied der sächsischen Landessynode (1984-89), "Konkret für den Frieden"
  • Okt. 1989 Pfarrer der Gethsemane-Gemeinde Berlin
  • 1989 – 1991 Sprecher des Neuen Forum Berlin Prenzlauer Berg
  • Bis zum Ruhestand Pfarrer in verschiedenen Berliner Gemeinden

 


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