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„Sputnik“ - Das trojanische Pferd
Leipzig, 23.10.1989: „Gorbi, Hilf uns!“
Als Mitte der 1980er Jahre durch Gorbatschows Glasnost-Politik in der Sowjetunion ein liberaleres Klima entsteht, werden auch in der DDR Hoffnungen wach. Schließlich folgte die SED dem „Großen Bruder“ bisher wie ein Schatten.
Doch die Partei- und Staatsführung distanziert sich immer zunehmender und unterdrückt die neuen Töne aus Moskau im eigenen Land.
September/1988: Letzte Ausgabe des „Sputnik“
Vorläufiger Höhepunkt der Ablehnung der sowjetischen Reformen bildet das Verbot des sowjetischen Auslandsmagazins „Sputnik“, das seit 1967erscheint. Der Digest der sowjetischen Presse bringt Artikel aus Kultur, Politik und Wissenschaft und will damit die Vielfalt des riesigen Landes dokumentieren. Mit der gewachsenen Pressefreiheit greift auch der „Sputnik“ zunehmend kritische Themen auf. Ein Hauptthema ist die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit.
Das Interesse der DDR-Bevölkerung an dieser Zeitschrift nimmt immer mehr zu. Die Auflage der deutschen Ausgabe steigt auf 180.000 Exemplare. Die SED-Führung kann sich zunächst nicht entschließen, etwas gegen dieses „trojanische Pferd“ zu unternehmen.
Die Oktoberausgabe 1988 wird jedoch nicht ausgeliefert. In sechs Artikeln wird die Rolle Stalins im „Großen Vaterländischen Krieg“ thematisiert. Die von der SED tabuisierten historischen Vorgänge rütteln am Mythos des heroischen Antifaschismus.
Als jedoch in der Novemberausgabe 1988 ein Artikel über den von der DDR-Geschichtsschreibung verschwiegenen Hitler-Stalin-Pakt erscheint, ist das Maß voll. Der Vertrieb der Zeitschrift wird eingestellt. Die Bevölkerung erfährt davon in einer kleinen Zeitungsnotiz.
Quellen der Zitate: BStU
Die Menschen fühlen sich bevormundet und für politisch unmündig erklärt. Der Protest bleibt zwar oft spontan und unkoordiniert, erreicht aber eine neue Qualität. In Betrieben treten ganze Abteilungen geschlossen aus der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ aus. Zahlreiche SED-Genossen geben ihr Parteibuch ab. An Wandzeitungen werden Proteste ausgehängt. In Leuna gibt es mehrstündige Arbeitsniederlegungen. An den Universitäten in Berlin, Halle und Jena kommt es zum offenen Protest. Während einer Opernaufführung des „Barbier von Sevilla“ in Dresden wird vom Text abgewichen: Graf Almavia habe jetzt Zeit zum Rasieren, da er immer den „Sputnik“ gelesen hat …
Dazu werden zwischen Rügen und Erzgebirge Eingaben geschrieben – selbst von Stasi-Mitarbeitern.
Zeitgleich mit dem Sputnik-Verbot verschwinden Mitte November 1988 auch sowjetische Filme aus den Kinos, die kurz zuvor beim „Festival des sowjetischen Films“ noch DDR-Prämiere hatten. Darunter Filme, die die „weißen Flecken“ der stalinistischen Vergangenheit thematisieren:
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„Sozialismus in den Farben der DDR“ - Nationalkommunismus
Die vielfältigen neuen Impulse aus der Sowjetunion erscheinen der SED-Führung fremd und bedrohlich. Eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln bedeutet für sie einen Gesichts- und Machtverlust. Die Ereignisse im Herbst 1988 sind für die Menschen nur ein weiterer Beleg dafür, dass die „alten Männer“ im Politbüro die Zeichen der Zeit nicht verstehen.
Praktisch als Antipode zu Gorbatschow propagiert Honecker seit Ende 1988 den DDR-Nationalkommunismus – ähnlich wie in Rumänien und Albanien. Gehörte „Internationalität“ bisher zum Wesen des „Sozialismus“, gibt es jetzt einen „Sozialismus in den Farben der DDR“.
„Alles in allem: Sozialismus in den Farben der DDR bedeutet, daß es sich gut leben läßt.“
Erstmals fällt die Floskel am 11.11.1988 durch Honecker bei einem Empfang von erfolgreichen Olympiasportlern. Die Ursache der sportlichen Erfolge sei der „Sozialismus in den Farben der DDR“.
Die SED-Politik wird in der Folge spöttisch mit „Farbenlehre à la Honecker“ umschrieben.
Gruppe „Neues Denken“ – Opposition außerhalb der Kirche
Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM): „Die Teilnahme unabhängiger Gruppen wäre unbedingt erforderlich.“
Auch innerhalb der oppositionellen Gruppen werden die sowjetischen Reformen aufgegriffen. Die IFM nimmt den Besuch Gorbatschows anlässlich eines Treffens der Warschauer-Pakt-Staaten in Ostberlin zum Anlass, die Beteiligung der Friedensbewegung und der demokratischen Opposition bei Entscheidungen einzufordern. (Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft)
Graffiti (Perestroika) in Leipzig | Quelle: ABL / J. Tallig
Nach Querelen mit der Kirchenleitung über die Inhalte der Leipziger Friedensgebete im Sommer 1988 erobern junge Leute den außerkirchlichen Raum. In Anlehnung an das 1988 im SED-Verlag „Dietz“ erschienene Buch von Gorbatschow nennen sie sich Gruppe „Neues Denken“. Sie nutzen die Spielräume, die der offiziell anerkannte „Kulturbund“ bietet aus und etablieren eine eigene Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Dialog“. In der Gruppe arbeiten keine Christen mit. Sie besteht vor allem aus Studenten, die z.T. Parteimitglieder der SED sind.
In Anlehnung an die sowjetischen Reformen, wollen sie eine Demokratisierung in der DDR erreichen.
Veranstaltungsbeispiele der Gruppe „Neues Denken“ innerhalb des Kulturbundes der DDR, 1988/89 | Quelle: ABL
Jürgen Tallig: „Die Diskussionen wurden mit Mikros nach draußen übertragen.“
Jürgen Tallig gehört zu den Initiatoren der Gruppe. Er berichtet von dem großen Erfolg der Veranstaltungsreihe. Wohlwissend, dass die Staatssicherheit jedesmal dabei ist, agiert die Gruppe vollkommen offen. Nach ihrem Selbstverständnis tun sie nichts Verbotenes.
Die Gruppe „Neues Denken“ wird auch zur Beobachtung der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 aktiv. Parallel zu den kirchlichen Gruppen nehmen sie in Leipziger Wahllokalen an der Auszählung der Stimmen teil und machen ihre Ergebnisse zu den Wahlfälschungen öffentlich.
Sie sind ebenfalls bei der Gründung des Neuen Forums in Leipzig beteiligt. Die von Mitgliedern der Gruppe begonnene Einrichtung einer Bibliothek und eines Lesecafes wird ab Oktober 1989 als erstes Büro des Neuen Forum genutzt.
Im Wohnhaus von Jürgen Tallig in der Leipziger Dreilindenstraße befindet sich das erste Büro des Neuen Forums | Quelle: ABL / Chr. Boy