Genfer Flüchtlingskonvention
Ungarn beginnt am 2. Mai 1989, seine Grenze nach Österreich abzubauen. Am 12. Juni wird der ungarische Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention rechtswirksam. Demnach ist es untersagt, Flüchtlinge in den Staat zurückzuschicken, aus dem sie geflohen sind.
Gilt das auch für Flüchtlinge aus der DDR?
Staatssicherheit: „Das ist Verrat!“
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit werden auf die veränderten Realitäten „eingeschossen“, denn keiner verlässt die Grundlagen des Sozialismus „ungestraft“.
Die ungarische Seite versichert der besorgt anfragenden Staatssicherheit, dass diese Regelung für DDR-Bürger nicht gelte. Das bedeutet, dass Flüchtlinge weiterhin der Stasi in der DDR überstellt werden können und als „Republikflüchtlinge“ gelten.
Der Straftatbestand heißt „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ und kann mit Gefängnis bis zu zwei Jahren geahndet werden. Das Risiko, dass der Einzelne eingeht, ist nachwievor hoch.
Die Welle
Die Sommerferien beginnen am 1. Juli. Am 13. August schließt die westdeutsche Botschaft in Budapest wegen Überfüllung.
Keiner weiß, was passieren wird. Ein Gerücht jagt das andere. Bekommen wir ein Ausreisevisum? Wird an der Grenze geschossen? Schauen die Grenzer weg oder verhaften sie uns? (Quelle: ABL)
Von Tag zu Tag kommen immer mehr. Für Ungarn entsteht ein humanitäres Problem. In dieser Situation bietet die UNO ihre Hilfe an.
„Das UN-Flüchtlingshilfswerk ist bereit, mit allen Beteiligten das Problem zu diskutieren.“
Mit dem Hilfsangebot vom 26. Juli zu vermitteln, wird die Fluchtwelle noch stärker internationalisiert. Die DDR-Führung gerät immer mehr in Erklärungsnöte. (Quelle: Open Society Archive Budapest)
Der Malteser Hilfsdienst richtet Flüchtlingslager ein. Nicht selten erfahren die Menschen Unterstützung durch die ungarische Gastfreundschaft.
Bis zum 14. November werden von den Maltesern ca. 36.000 Flüchtlinge betreut.
Einzeln oder in kleinen Gruppen versuchen manche die Flucht bei Nacht über die „grüne Grenze“. Andere warten auf ihre offizielle Ausreise – alles Menschen, die nicht gewillt sind, wieder nach Hause zu fahren.
Am 24. August erhalten 108 Flüchtlinge aus der westdeutschen Botschaft die Ausreiseerlaubnis. Dies ist ein einmaliger humanitärer Akt der ungarischen Regierung.
Grenzöffnung
Auf Initiative des „Ungarischen Demokratischen Forum“ (MDF) und des Präsidenten der Paneuropa-Union Otto von Habsburg findet am 19. August bei Sopron ein „Paneuropäisches Picknick“ statt. Es soll u.a. ein Zeichen zur Lösung des schwelenden Fluchtproblems gesetzt werden.
Unter dem Titel „Baue ab und nimm mit!“ kann sich jeder Teilnehmer am Abriss des „Eisernen Vorhangs“ beteiligen.
Einladung zum Paneuropäischen Picknick in SOPRON - Quelle: Open Society Archive Budapest. Für eine größere Ansicht bitte auf das Plakat klicken
Punkt um drei Uhr stürmen etwa 150 DDR-Flüchtlinge das Grenztor, obwohl die Organisatoren noch gar nicht so weit sind. Den Medien zuliebe wird die Grenze für einige Minuten wieder geschlossen, um sie dann „offiziell“ zu öffnen. Stundenlang steht die Grenze offen. Etwa 900 DDR-Bürger nutzen das „Happening“ zur Flucht.
Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Rainer Benedix: „Es war eigentlich Chaos.“
Ohne die Absicht, nach Österreich zu gehen, sind Regina Roth und Rainer Benedix einen Tag nach dem Picknick in Sopron. (Quelle: ABL)
Nach dem Durchbruch zeigt die ungarische Regierung „Härte“. Ertappte Flüchtlinge werden festgenommen. Bei einem Handgemenge fällt sogar ein tödlicher Schuss.
Gespräche des Außenminister Gyula Horn (rechts) mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer (links) | Quelle: Bundesarchiv
Der ungarische Außenminister Gyula Horn (rechts) reist in die DDR, um eine Lösung zu finden. Bei dem Gespräch mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer (links) macht dieser deutlich, dass die DDR nicht gewillt ist, die Flüchtlinge ziehen zu lassen.
„Gesetze der DDR gelten für alle ihre Bürger.“
Der ungarischen Regierung droht, ihr neues liberales Gesicht zu verlieren, wenn sie sich auf die harte Linie der SED einlässt. Ungarn signalisiert deshalb Anfang September, dass es nicht mehr gewillt ist, die Flüchtlinge festzuhalten.
Am 11. September öffnet Ungarn die Grenzen für alle DDR-Flüchtlinge. Bis Ende September kommen etwa 30.000 Menschen in die Bundesrepublik.
In Ungarn passiert der „Probelauf“ für den Sturz der Berliner Mauer zwei Monate später. |
Das was in Ungarn geschieht, sorgt in der DDR für eine große Verwirrung: Von der Stasi gesammelte Reaktionen der Bevölkerung:
Grafik, Quelle: BStU
Demonstrationen in Leipzig
Die Massenflucht über Ungarn bildet ein Katalysator und führt den Protest aus der Kirche auf die Straße. Am 4. September 1989 wird die mediale West-Öffentlichkeit durch die Leipziger Herbstmesse genutzt, um gegen den politischen Stillstand zu demonstrieren.
Oppositionelle und Ausreisewillige finden dabei eine Allianz, die nicht unumstritten ist.
Gleichzeitig verstärkt die Gruppe der Ausreisewilligen den Eindruck eines Massenprotestes. Diese Ambivalenz beschreibt Christoph Motzer. Letztendlich profitieren beide Gruppen voneinander. (Quelle: ABL)
Lebenslauf Christoph Motzer
„Nicht alle wollen in die Bundesrepublik.“
Vor den Augen westlicher Kameras reist die Stasi den Demonstranten die Transparente aus den Händen. Die Bilder gehen via Westfernsehen durch das ganze Land. (Quelle: Kontraste)
Eine Woche später, jetzt ohne mediale Öffentlichkeit, rächt sich die Stasi und verhaftet die Initiatoren.
Mit dieser Demonstration beginnt die Tradition der „Montagsdemonstrationen“, die maßgeblich zum Sturz der SED beitragen.
- - geb. in Leipzig 1963
- - ab 1980 Lehre als Elektriker
- - 1882/83 diakonisches Jahr
- - Mitarbeit in der AG Umwelt und AG Menschenrechte
- - Fotograf und Dokumentarist
- - Seit 1990 in der Leipziger Stadtverwaltung Abt. Sozialwesen Thema Obdachlosigkeit