Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Die fünf Themenblöcke zu ČSSR

Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Quelle: ČTKParallel zu der Flüchtlingswelle über Ungarn wird im August 1989 die westdeutsche Botschaft in Prag durch Menschen aus der DDR besetzt, die damit ihre Ausreise aus der DDR erzwingen wollen. Ähnliches geschieht in Warschau. Dieser Weg wurde zwar schon früher von Einzelnen genutzt, doch jetzt befinden sich etwa 140 Flüchtlinge auf dem Gelände und die Prager Botschaft wird am 22. August wegen Überfüllung geschlossen. Trotzdem lässt der Ansturm nicht nach. Menschen verschaffen sich über die Zäune Zugang.

Im Laufe des Septembers lagern tausende Menschen im und um das Botschaftsgelände in Prag.

 

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Quelle: ČTK

Quelle: ABL / R. KühnVerlassene Fahrzeuge der Marke „Trabant“ und „Wartburg“ prägen das Bild um das Botschaftsgebäude.
Diese Zeugnisse der Massenflucht verarbeitet der tschechische Künstler David Černy in seiner Skulptur „Quo vadis?“, die er im Juli 1990 auf dem Prager Altstädter Ring präsentiert. Er erinnert damit an den Exodus tausender Ostdeutscher vom Vorjahr.

Quelle: ABL / R. Kühn

 

Die Verantwortlichen der DDR und der ČSSR sind mit dieser Situation total überfordert. Am Rande der UN-Vollversammlung Ende September in New York einigen sich die Außenminister der Sowjetunion, der DDR, der ČSSR, Polens und der Bundesrepublik auf eine Ausreiseerlaubnis der Botschaftsflüchtlinge.
Am 30.9.1989 verkündet der Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag die Ausreise der DDR-Flüchtlinge in Prag und Warschau.

Quelle: ČTK

Quelle: ČTK

Bestandteil der internationalen Verhandlungen in New York ist die Forderung der DDR, die Flüchtlinge über das Gebiet der DDR ausreisen zu lassen. Damit will die SED den Anschein einer legalen Ausreise wahren. Die Sonderzüge fahren durch die DDR. Ausreisewillige Menschen versuchen nun, auf die Züge aufzuspringen.

Quelle: ABL

Neues Deutschland, 2.10.1989Die SED hat eine Situation geschaffen, die sie nicht mehr beherrscht. In die „Enge“ getrieben schlägt die Propaganda menschenverachtende Töne gegenüber der eigenen Bevölkerung an, indem man den Flüchtlingen „keine Träne nachweinen“ wolle.
Anstatt sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, werden sie deklassiert.

Foto: Berlin Alexanderplatz, Ausweiskontrolle im Sommer 1989 | Quelle: ABL / R. Kühn
Foto: Berlin Alexanderplatz, Ausweiskontrolle im Sommer 1989 | Quelle: ABL / R. Kühn

 

Eskalation in Dresden – Fünf Tage im Oktober

Quelle: ABLEine absolute „Bankrotterklärung“ der SED-Führung ist die Schließung der Grenzen zur ČSSR am 3. Oktober 1989. Damit sind jetzt alle Grenzen der DDR dicht. Die Situation in Dresden verschärft sich, als auf die Ankündigung der Durchfahrt eines weiteren Flüchtlingszuges die Mitteilung der Grenzschließung trifft.

Neues Deutschland 4.10.1989Mit dem Entschluss der SED-Führung, die neuen Flüchtlinge in Prag ausreisen zu lassen, ist die Entscheidung gekoppelt, die Grenzen zu schließen. Damit erhofft sie sich, das Flüchtlingsproblem zu lösen und im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober, keinen Imageschaden davonzutragen.
Erst im Verlauf der friedlichen Revolution werden die Grenzen am 1.11.1989 wieder geöffnet.

An der Grenzübergangsstelle für den Zugverkehr in Bad Schandau kommt es zu Waggonbesetzungen und Sitzblockaden. Über 2.000 Menschen wird die Einreise in die ČSSR verweigert. Sie werden mit Nahverkehrszügen wieder in das Hinterland nach Dresden gebracht. Am Abend des 3. Oktober befinden sich etwa 2.000 Menschen auf dem Dresdner Hauptbahnhof. Die Ausreisewilligen aus der gesamten DDR mischen sich mit dem Dresdner Protestpotential. In dieser Nacht kommt es zu ersten Polizeieinsätzen gegen die Demonstranten.

PDF Download: Ereignisse am Dresdner Hauptbahnhof Bild: vusta/iStockphoto„Um 23.30 Uhr ging es los.“
Über die Demonstrationen in Dresden gibt es vielfältige Erlebnisberichte. Hier werden die Ereignisse vom 3. und 4. Oktober zusammengefasst.

 

Quelle: ABLAm Abend des 4. Oktober 1989 eskalierte die Situation. Der Hauptbahnhof ist verbarrikadiert, damit die Flüchtlingszüge aus Prag durch Dresden fahren können. Es fliegen Pflastersteine und Brandflaschen. Drei Polizeifahrzeuge brennen. Die Polizei geht mit Wasserwerfern gegen tausende Demonstranten vor. Das Militär steht in Bereitschaft.
Es finden die schwersten Auseinandersetzungen seit dem 17. Juni 1953 statt.

 

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Quelle: ABLAm 5. Oktober 1989 gehen die gewaltsamen Auseinandersetzungen weiter. Doch jetzt sind nicht nur Ausreisewillige auf der Straße, sondern auch viele Dresdner. Trotz der vielen Übergriffe und Verhaftungen durch die Polizei werden die Aktionen friedlicher. Einen wichtigen Einfluss darauf haben der Superintendent Christof Ziemer und der Bischof Johannes Hempel.

 

PDF Download: Staatsschauspiel Dresden Bild: vusta/iStockphoto„Wir treten aus unseren Rollen heraus!“
Bereits am Vortag stellten die Schauspieler und Angestellten des Staatsschauspiels ihre Forderungen gegenüber dem Staat auf. Ab jetzt werden sie vor jeder Vorstellung verlesen.

 

Quelle: ABLAm 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, soll wie überall dem Staat zugejubelt werden. Doch auch wie in anderen Städten kommt es in Dresden zum Protest. Angesichts der Gewalt der letzten Tage, soll auf Anweisung von SED-Bezirkschef Hans Modrow die Demonstration nur begleitet und beobachtet werden. Am Abend setzen sich etwa 4.000 Menschen erstmals in Bewegung und skandieren „Wir bleiben hier!“ oder „Neues Forum!“ - aber auch die nationalsozialistische Parole „Dresden erwache!“ ist nicht zu überhören. Trotzdem erhalten die Proteste eine neue Qualität, weil von ihnen keine Gewalt ausgeht. Ausgangspunkt der Demonstration, die zwischenzeitlich auf über 10.000 Menschen anwächst, ist der Hauptbahnhof.

Quelle: ABL

Die spontane Massendemonstration durch die Dresdner Innenstadt entwickelt sich zur bis dahin längsten Demonstrationsstrecke seit dem 17. Juni 1953.

PDF Download: Demonstration - Augenzeugenbericht Bild: vusta/iStockphoto„Die Menschenmenge verhielt sich sehr friedlich.“
Die Demonstration wird nach 1¾ Stunden durch Polizei und Kampfgruppen gewaltsam aufgelöst. Der Augenzeuge vergleicht die Dresdner Demonstration mit den Leipziger Montagsdemonstrationen.

 

PDF Download: Verhaftungen – Augenzeugenbericht Bild: vusta/iStockphoto„Sie haben mit Wut und Freude auf mich eingeschlagen.“
In dieser Woche werden in Dresden 1303 Menschen festgenommen und in verschiedene Sammellager gebracht. Nachdem in Dresden die „Kapazitäten“ erschöpft sind, nutzen die Sicherheitstruppen das Gefängnis im berühmt-berüchtigten Bautzen.

 

Quelle: ABLAm 8. Oktober 1989 tauchen verschiedene Flugblätter auf, die am Nachmittag zu einer neuen Demonstration im Stadtzentrum aufrufen. Aus der Eskalation mit der Staatsmacht heraus kommt es zur Teilung des wenig koordinierten Demonstrationszuges von etwa 1.000 Menschen. Der angewiesene harte Konfrontationskurs durch die SED-Spitze in Berlin führt zu weiteren Massenverhaftungen. Jetzt passiert in Dresden etwas vollkommen Neues: Die Befehle der Berliner Hardliner widersprechen den Realitäten vor Ort, denn die Demonstranten lassen sich durch die Gewalt nicht einschüchtern. Auf der Bezirksebene beginnen daraufhin Überlegungen zur politischen Lösung des Konflikts. Nachdem ein Teil der Demonstranten aufgerieben wurde, kesselt Polizei und Militär den anderen am Abend ein. Die Vertreter der Staatsmacht in Dresden signalisieren unter Vermittlung der Kirche nun Gesprächsbereitschaft. Aus der Demonstration heraus wird eine Gruppe von 20 Personen ermächtigt, mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer in den politischen „Dialog“ zu treten.

Dieses Selbstverständnis formuliert die „Gruppe der 20“ am 9.10.1989, nachdem erste Gespräche im Dresdner Rathaus geführt worden. | Quelle: ABL
Dieses Selbstverständnis formuliert die „Gruppe der 20“ am 9.10.1989, nachdem erste Gespräche im Dresdner Rathaus geführt worden. | Quelle: ABL

Die Reaktion regionaler Vertreter der Staatsgewalt in Dresden auf die tagelangen Proteste hat keine unerhebliche Signalwirkung auf die bevorstehende Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989. Nach diesem 9. Oktober sind die revolutionären Veränderungen nicht mehr aufzuhalten.

 

Solidarität mit den Inhaftierten in der ČSSR

Im Januar 1989 kommt es in Prag zu Demonstrationen zum Gedenken an Jan Palach. Dieser hatte sich in einem Akt der politischen Verzweiflung nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten im Januar 1969 selbst verbrannt und erlag seinen Verletzungen. Das Husák-Regime geht mit massiver Gewalt gegen die Demonstranten vor. In diesem Zusammenhang werden auch die Symbolfigur des tschechoslowakischen Widerstandes Vacláv Havel und weitere Dissidenten verhaftet und zu Gefängnishaft verurteilt.

Solidarität mit den Inhaftierten in der ČSSR | Quelle: ABL

Durch die jahrelange Verbundenheit mit der Opposition in der ČSSR kommt es im Rahmen internationaler Proteste auch in der DDR zu verschiedenen Solidaritätsaktionen. Eine Gegenöffentlichkeit schafft der Samisdat.

PDF Download: Offener Brief, 23.2.1989 Bild: vusta/iStockphoto„Wir solidarisieren uns mit den Demonstranten.“
Schnell finden sich 19 oppositionelle Gruppen aus Berlin, Dresden, Leipzig, Frankfurt / Oder, Borna, Weimar, Quedlinburg, Kittlitz, Zittau, Ilmenau und Halle zusammen und protestieren in einem offenen Brief an die Repräsentanten des Nachbarlandes.

 

Quelle: ABL / F. Sellentin
Quelle: ABL / F. Sellentin

Quelle: ABL / F. SellentinFür den 19. März wird zu einem landesweiten Aktionstag für die Freiheit der Inhaftierten in der ČSSR aufgerufen. Vielerorts finden Solidaritätsveranstaltungen statt.

Karte mit Aktionstagen

 


Die Charta 77 bedankt sich für die Solidarität der unabhängigen Gruppen | Quelle: ABL

 

PDF Download: Aktionstag Bild: vusta/iStockphoto„Störung der zwischenstaatlichen Beziehungen DDR – ČSSR“
Die Staatssicherheit verfolgt den Aktionstag in Leipzig sehr genau. Der Bericht zeigt, dass neben der Aufklärung über die Ereignisse in Prag, von den Akteuren neue Aktionen geplant werden. Für die Stasi hat die Veranstaltung einen „offenen, Sozialismus feindlichen Charakter“.

 

Titelgrafik: Bärbel BohleyIm März 1989 erscheint eine gemeinsame Sonderausgabe der Untergrundzeitschriften „Kontext“ und „Ostkreuz“. Die Herausgeber wollen mit dem 37-seitigen Heft „[…] dem allgemeinen Informationsmangel über politische und gesellschaftliche Entwicklungen und – was Havel betrifft –der Unkenntnis seines Werkes wenigstens ansatzweise abhelfen.“ Es werden Auszüge seiner politischen Statements und schriftstellerischen Arbeiten veröffentlicht.

Die Herausgeber des Sonderdrucks über Václav Havel vermissen eine deutliche Solidarisierung von DDR-Schriftstellern mit ihrem inhaftierten tschechischen Kollegen. Einer breiten DDR-Öffentlichkeit ist nur die SED-Propaganda zugänglich, die u.a. den Menschen Havel und seine ganze Familie auf massivste Weise verleumdet:

 

Gesamter SED KommentarGesamter SED Kommentar

 

PDF Download: Havels Rede im Prozess, 21.2.1989 Bild: vusta/iStockphoto„Heute erntet die gegenwärtige Macht die Saat ihrer eigenen stolzen Haltung.“
Was Václav Havel in seiner Verteidigungsrede dem tschechoslowakischen Regime vorwirft, gilt angesichts der verleumderischen Kampagnen der SED ebenso für die DDR: Die Staatsmacht benehme sich „[…] wie ein häßliches Mädchen, das den Spiegel in der Annahme zerbricht, er sei an ihrem Aussehen schuld.“

Auf Grund des Drucks der internationalen Öffentlichkeit wird Václav Havel im Mai aus der Haft entlassen.

 

Friedliche und Samtene Revolution

Leipzig, 6.11.1989 | Quelle: ABL / B. Heinze
Leipzig, 6.11.1989 | Quelle: ABL / B. Heinze

Während die SED am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer ihre Machtgrundlage in der DDR bereits verloren hat, klammern sich die tschechoslowakischen Genossen verbissen an die ihre. In der DDR demonstriert man aber nicht nur für sich selbst, sondern bleibt mit dem Schicksal der tschechoslowakischen Nachbarn verbunden.

PDF Download: Zur Situation in der ČSSR, 16.11.1989 Bild: vusta/iStockphoto„Wir entschuldigen uns.“
In einer gemeinsamen Erklärung ungarischer und DDR-Oppositioneller werden die Regierungen in der Sowjetunion, in Polen, Ungarn und der DDR aufgefordert, die demokratischen Bewegungen in der ČSSR zu unterstützen.
Mittlerweile agiert man mit dem Selbstbewusstsein, demokratische Veränderungen im eigenen Land erreicht zu haben.

 

Leipzig 1989
Leipzig, 6.11.1989 | Quelle: ABL / B. Heinze

 

„Zeigen wir unsere Anteilnahme!“
In der Fülle der politischen Statements auf den Leipziger Montagsdemonstrationen zum katastrophalen Zustand der DDR sind trotzdem Aufrufe, zur Solidarität mit der Bürgerrechtsbewegung in der ČSSR zu hören. Die Brutalität der tschechoslowakischen Polizei macht deutlich, was den Menschen in der DDR weitestgehend erspart geblieben ist. (Quelle: ABL)

Demonstration in Berlin vor dem tschechoslowakischen Kultur- und Informationszentrum gegen den Polizeieinsatz vom 17.11.1989 in Prag, 21.11.1989 | Quelle: Bundesarchiv
Demonstration in Berlin vor dem tschechoslowakischen Kultur- und Informationszentrum gegen den Polizeieinsatz vom 17.11.1989 in Prag, 21.11.1989 | Quelle: Bundesarchiv

Als eine gewisse Anerkennung der deutsch-tschechischen Beziehungen innerhalb der Opposition kann der Besuch des neu gewählten Präsidenten der ČSSR am 2.Januar 1990 in der DDR gewertet werden. Gerade vier Tage im Amt führt Václav Havels erste Auslandsreise nach Ost-Berlin.

 

Berlin2
Quelle: Bundesarchiv

In Berlin trifft Havel (2.v.l.), nun protokollarisch gebunden, auf den noch amtierenden Staatsratsvorsitzenden Manfred Gerlach (M.) von der Blockpartei LDPD und weiteren Altkadern der SED, die die Regierung bilden. Vor seiner Weiterreise in die Bundesrepublik trifft er sich mit Vertretern der Opposition.

 

(Fan-) Reisen

Neues Deutschland, 22.1.1972


Grenzübergang zur ČSSR im Elbsandsteingebirge (Schmilka), 15.1.1972 | Quelle: Bundesarchiv

Nachdem am 1. Januar 1972 die Grenzen nach Polen geöffnet werden, ist es zwei Wochen später auch möglich, in die ČSSR nur unter Vorlage des Personalausweises zu reisen. Als jedoch in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność legalisiert wird, schließt die SED am 30. Oktober 1980 wieder die Grenzen nach Osten.
Die ČSSR ist nun das einzige zu bereisende Land für die Menschen in der DDR ohne Pass und Visum.
Man bleibt zwar willkürlichen Zollkontrollen ausgeliefert, doch man kann die Grenze relativ problemlos passieren. Die ČSSR ist daher, neben der touristischen Bedeutung, ein wichtiger Ort für deutsch-deutsche Begegnungen auf privater Ebene. Hier trifft man sich mit westdeutschen Verwandten und Freunden. Dieser Umweg ist oft nötig, denn wer einmal aus der DDR in die Bundesrepublik ausgereist ist, kann für viele Jahre nicht wieder einreisen.

Neues Deutschland, 11.7.1986

Zu deutsch-deutschen Sympathiebekundungen im großen Rahmen verhilft der internationale Sport - insbesondere der Fußball. Seit Ende der 1960er Jahre fahren DDR-Fußballfans ihren westdeutschen Stars zu internationalen Spielen, wenn sie in bereisbaren Ländern stattfinden, nach.

Ostdeutsche Fußballzeitschriften: Deutsches Sportecho und fuwo | Quelle: privat

Die Auslosungen zu den UEFA-Cup-Spielen, den Gruppenansetzungen für die Qualifikationen zu Europa- oder Weltmeisterschaften werden in der Presse veröffentlicht. Sehr beliebt sind die relativ politikfreien „Sportecho“ (Sport-Tageszeitung) und „Fuwo“ (Fußball-Wochenzeitung). Jetzt können die Reisen geplant werden.
Westdeutsche Spieler, Vereine oder Freunde besorgen die Eintrittskarten für die „ausgegrenzten“ Fans. So waren z.B. 1971 beim Länderspiel der Bundesrepublik gegen Polen in Warschau ca. 3.000 ostdeutsche Fans im Stadion.

PDF Download: Sportveranstaltungen im sozialistischen Ausland Bild: vusta/iStockphoto„Einleitung operativer Maßnahmen zur Verhinderung dieser Fahrt“
Es entsteht eine regelrechte „Bewegung“, so dass die Staatssicherheit diese kontrolliert und versucht, derartige Fanreisen zu verhindern. Es wird gezielt nach „auffällig“ gewordenen Personen gesucht, um denen die Ausreise zu verwehren.

 

Das Dilemma für die SED besteht darin, dass sich bei derartigen Fanreisen ein eindeutiges Bekenntnis zur Bundesrepublik äußert, was gleichzeitig eine Ablehnung des SED-Staates impliziert. Gerade der Sport kann über soziale und politische Grenzen hinweg eine relativ einheitliche Identifikation schaffen. Wenn er mit Erfolgen verbunden ist, so die Hoffnung der SED, hilft der Sport ein sozialistisches Nationalbewusstsein bei der Bevölkerung zu erzeugen.
Doch ausgerechnet in der publikumsträchtigsten und Massen mobilisierenden Sportart „Fußball“ stellen sich keine Erfolge ein, so dass die „mentale Abwanderung“ nach Westen nicht aufzuhalten ist.

 

10.000 Fußballfans in Prag

Der Höhepunkt der Fußballbewegung findet am 30. April 1985 in Prag statt:

Neues Deutschland, 8.12.1983

Gruppen

Programmheft | Quelle: privat

Bilder vom Spiel | Quelle: privat
Bilder vom Spiel | Quelle: privat


Fan-Tagebuch des Fan-Club West von Chemie Leipzig | Quelle: privat

PDF Download: Magnet 85 Bild: vusta/iStockphoto„In Koordinierung mit den Partnern die Ausreise verhindern.“
Die Staatssicherheit bereitet sich DDR-weit auf das Event vor. Unter der Bezeichnung „Magnet 85“ soll die Ausreise von „negativ-dekadenten“ Personen in die ČSSR verhindert werden. Dabei arbeitet die Stasi mit der Polizei und den Grenzorganen eng zusammen.

 

Jens Fuge: „Die Stasi hat mir mündlich verboten nach Prag zu fahren.“
Der begeisterte Fußball-Fan der BSG (Betriebssportgemeinschaft) Chemie Leipzig geriet ins Visier der Staatssicherheit, als er mit Freunden den Fan-Club West gründete und eine illegale Fanzeitung mit herausbrachte. Enge Kontakte zum westdeutschen Fanclub des Bonner SC verstärkten den Affront gegenüber der Staatsmacht. Somit fiel Jens Fuge unter die Stasiaktion „Magnet 85“ und ihm wurde die Ausreise zum Länderspiel nach Prag verweigert. (Quelle: ABL)

jens
Bei der Grenzkontrolle wird der Ausreisestempel ungültig gemacht und die Reise endet im Erzgebirge. (Aus: Fan-Tagebuch) | Quelle: privat

Lebenslauf Jens Fuge:

  • Jahrgang 1963, in Leipzig geboren
  • 1980 - 1982 Lehre als Aufzugsmonteur
  • 1983 illegale Herstellung einer Fanzeitung
  • 1983/84 massiver Druck der Staatssicherheit, um über ihn in die Fanszene zu kommen
  • Ab 1985 unterlag er der „operativen Personenkontrolle“ durch die Staatssicherheit, Ausreiseverbot durch den provisorischen Personalausweis „PM12“
  • nach 1985 Gelegenheitsjobs
  • Kontakte zur Punkszene
  • Ostern 1989 Ausreise nach Karlsruhe
  • Seit 1992 wieder in Leipzig, Inhaber einer Werbefirma

 

Treffpunkt „u Fleku“

Wörterbuch: pi.vo [ˈpɪvɔ] Bier n Pl. pi.va [ˈpɪva]

Brauereirestaurant u Fleku | Quelle: privatDas traditionsreiche Brauereirestaurant „u Fleku“ ist für viele Jugendliche aus der DDR der Anlauf- und Treffpunkt in Prag. Über Ostern und Pfingsten etablieren sich regelrechte „Wallfahrten“ zum böhmischen Schwarzbier. Der „Dresscode“ sind lange Haare und das Jeans-Blau.
Mitunter kehren hunderte DDR-Touristen ins „u Fleku“ ein, so dass es wegen Überfüllung geschlossen wird und manche „Zecherei“ läuft derart aus dem Ruder, dass die Polizei eingreifen muss.
Die Staatssicherheit nennt solche Treffs „Schwarzbierfeste“ und versucht wie bei den Fan-Reisen auch hier gegenzusteuern, indem für bestimmte Menschen ein Ausreiseverbot verhängt wird.

 

u-Fleku-NadelErkennungssymbol der „Kunden“, wie sie sich nennen, ist die u-Fleku-Nadel. An der Jeansjacke getragen weist sie einen als Insider aus.
Alle eint der Wille zur Provokation gegenüber bürgerlichen Moralvorstellungen und das Bedürfnis nach einem Leben unabhängig der verordneten sozialistischen Norm. Den Soundtrack für dieses Lebensgefühl liefert der Blues.

Diese von den Hippies inspirierte Jugendbewegung ist die langlebigste in der DDR.

 

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Neue Ansätze des Dissens

Die Grundsatzerklärung der Charta 77 vom Januar 1977 trifft nahezu mit jedem Wort die Situation in der DDR. Trotz der deutschen Zweistaatlichkeit und der spezifischen Stellung der ostdeutschen evangelischen Kirche, existieren ähnliche gesellschaftliche Probleme.

Deutsch-tschechischer Händedruck

So ist es nicht verwunderlich, dass es auch auf Grund der Nähe schnell Einzelkontakte von Dissidenten in das Nachbarland gibt.

Petr Uhl, 1978 | Quelle: ČTKEine der wichtigsten Kontaktpersonen in der ČSSR ist Petr Uhl. Er gehört zum linken „Flügel“ der Charta 77 und zu den Gründern des „Komitees zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter“ (VONS). Insgesamt sitzt er neuen Jahre für seine Überzeugungen im Gefängnis. In den 1980er Jahren ist die Wohnung seiner Frau, Anna Šabatova, und ihm „Umschlagplatz“ von Informationen osteuropäischer Oppositioneller.

 

Infografik

Gerd Poppe: „1980 war ich das letzte Mal in der ČSSR.“
Der Mitbegründer der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ (IFM) hatte von 1980 bis 1989 Reiseverbot. Er berichtet von seiner letzten - schon illegalen - Reise und von dem Versuch der IFM, 1987 per Flugzeug mit 17 Oppositionellen von Berlin nach Prag zu kommen. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Gerd Poppe

PDF Download: Gebrauchsanweisung für einen nicht alltäglichen Flugversuch Bild: vusta/iStockphoto„Gebrauchsanweisung für einen nicht alltäglichen Flugversuch“
In der Untergrundzeitung der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ wird der „Flugversuch“ ironisch beschrieben. Alle 17 Reisewilligen sind vom „Paß- und visafreien Reiseverkehr unbegründet ausgeschlossen“.

 

Liegt seit der Helsinki-Konferenz von 1975 der Fokus oppositionellen Handelns auf der Einhaltung der „Menschenrechte“, so kommt Anfang der 1980er Jahre der Aspekt des „Friedens“ hinzu. Durch die hemmungslose, militärische Aufrüstung der beiden Blöcke in Ost und West und die vielen regionalen Kriege auf der Welt verschärft sich die weltpolitische Situation dramatisch. „Frieden“ und „Menschenrechte“ werden zu einer sich bedingenden Einheit, um das Leben zu verbessern. Insbesondere in den Kreisen der Opposition ist man sich des Widerspruchs zwischen dem öffentlich gepredigten Credo von „Sozialismus = Frieden“ und der Realität einer sich immer weiter vertiefenden Spaltung der Welt in verfeindete und bis an die Zähne bewaffnete Lager bewusst. Die Bedrohungsdoktrin in Ost und West führt zur Entstehung einer grenzübergreifenden, internationalen Friedensbewegung.

PDF Download: Die jetzige Lage entstand durch das Praktizieren von Machtpolitik. Bild: vusta/iStockphoto„Die jetzige Lage entstand durch das Praktizieren von Machtpolitik.“
Vertreter unabhängiger Friedensgruppen aus der ČSSR und der DDR veröffentlichen im November 1984 eine gemeinsame Erklärung gegen die Stationierung von sowjetischen Raketen in ihren Ländern und erklären sich solidarisch mit der Friedensbewegung im Westen.

 

Einen vieldiskutierten Impuls für das Selbstverständnis der Opposition liefert Vaclav Havel mit seinem1978 im Samisdat erschienenen Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. Oppositionelle fühlen sich nun ermutigt, ihre Kritik offen zu vertreten. Der übersetzte Aufsatz kursiert als Abschrift durch die DDR.</>

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Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf, ABL

Havel diagnostiziert hinter der massenhaften Anpassung die Angst des Einzelnen, sein „ruhiges Leben“ verlieren zu können. Doch gerade die Anpassung sichert die bestehenden Verhältnisse. Das Leben sei aber viel zu „bunt“, um die Uniformität des Systems als Gesetz zu akzeptieren. Ein erfülltes Leben verträgt sich also schlecht mit der Machterhaltung des Staates. „In der Wahrheit zu leben“ heißt, sich den Spielregeln des manipulierten Lebens zu widersetzen und selbstbewusst für sein eigenes Leben verantwortlich zu sein.

Vaclav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben:

„Ein Leiter eines Gemüseladens platziert im Schaufenster zwischen Möhren und Zwiebeln das Spruchband ‚Proletarier aller Länder vereinigt euch!‘.
Warum hat er das getan? Was wollte er damit der Welt mitteilen?
[…]
Dieses Spruchband wurde unserem Gemüsehändler zusammen mit Zwiebeln und Möhren vom Betrieb angeliefert und er hängte es einfach deshalb in das Schaufenster, weil er das schon seit Jahren so tut, weil das alle tun, weil es so sein muss. […] Er hatte es deshalb getan, weil es ‚dazu gehört‘, wenn man im Leben durchkommen will, weil das eine von tausenden Kleinigkeiten ist, die ihm ein relativ ruhiges Leben ‚im Einklang mit der Gesellschaft‘ sichern.
[…]
Würde man dem Gemüsehändler befehlen, die Parole ‚Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos gehorsam’ in das Schaufenster zu stellen, würde er sich ihrem semantischen Inhalt gegenüber bei weitem nicht so lax verhalten. Obwohl eben dieser Inhalt sich mit der verborgenen Bedeutung des Spruchbandes im Schaufenster absolut deckt.“

Bemerkenswert findet man in der DDR, dass es innerhalb der Charta 77 verschiedene Strömungen gibt, die trotz unterschiedlicher Weltanschauungen an gemeinsamen Zielen arbeiten.
Seit Oktober 1985 treffen sich in unregelmäßigen Abständen Menschen, die sich in eine Zusammenarbeit mit der Charta 77 und mit weiteren osteuropäischen Gruppen einbringen wollen. Die Staatssicherheit nennt sie die „Kontaktgruppe zur Charta 77“.
Zwei der Protagonisten, Gerd Poppe und Stephan Bickhardt, reflektieren ihr Selbstverständnis. Ähnlich wie in der ČSSR und Polen wollte man den Kreis geschlossener Zirkel verlassen und sich öffentlich artikulieren.

Gerd Poppe: „Wir wollten öffentlich handelnde Akteure sein.“
Trotz dieses Anspruchs war es nicht immer möglich mit den tschechischen Dissidenten direkt in Kontakt zu treten. Der Informationsfluss zwischen Berlin und Prag brauchte manchen Umweg über London. Jedoch war man trotz aller Schwierigkeiten in den 1980er Jahren jederzeit gut informiert. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Gerd Poppe

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Stephan Bickhardt: „Wir sind keine Organisation.“
Die Gründung einer Partei als Gegenspieler zur SED hätte unweigerlich zur Verfolgung geführt. Man verstand sich entsprechend des Anspruchs der Charta 77 als Plattform. Man müsse offen agieren, um eine Ausstrahlung in die Gesellschaft zu erreichen. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Stephan Bickhardt

PDF Download: Ermutigung und Quelle der Inspiration Bild: vusta/iStockphoto„Ermutigung und Quelle der Inspiration“
In einem Brief zum 10jährigen Bestehen der Charta 77 betont die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ ihre Gemeinsamkeiten und verortet beide Gruppen im Kontext osteuropäischer Menschenrechtsbewegungen.

 

„Zuzugeben ist, dass die Charta 77, die die Umstände im Land verbessern wollte, für diejenigen Menschen, die ihre Hoffnungen an die Reformierbarkeit des Systems längst aufgegeben haben und der DDR den Rücken kehrten oder sich im ‚sozialistischen Biedermeier‘ eingebürgert haben, kaum eine reizvolle Alternative sein kann. Der Kreis derjenigen, die die Charta 77 in der DDR wahrgenommen haben, ist aus diesem Grund sehr bescheiden, wenn auch nicht bedeutungslos.“

(Tomáš Vilimek: Die Opposition in der ČSSR und in der DDR – Der „dissidentische Weg“ und gegenseitige Wahrnehmung der Vertreter der tschechoslowakischen und ostdeutschen Opposition, unveröffentlichtes Manuskript, 2011)


Tabubruch „Prager Appell“ 1985 – Die nationale Frage

Einer der wichtigsten Texte der Charta 77 ist der „Prager Appell“ von 1985 an die 4. Internationale Konferenz für atomare Abrüstung in Europa (END-Konferenz) in Amsterdam. Die blockübergreifende Kampagne „European Nuclear Disarmament“ (END) thematisiert die Folgen des Kalten Krieges auf gesamteuropäischer Ebene und schafft ein Podium für die Friedensbewegungen in Ost und West.

Der Brief der Charta 77 bricht nun ein Tabu in der europäischen Diskussion, indem er die Teilung Deutschlands als ein Hindernis auf dem Weg zur europäischen Einheit und damit zur Abrüstung und Befriedung des Kontinents thematisiert. Es heißt:

„Erkennen wir aber offen den Deutschen das Recht zu, sich frei zu entscheiden, ob und in welcher Form sie die Verbindung ihrer zwei Staaten in ihren heutigen Grenzen wollen. […] Der Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland [könnte] eines der bedeutendsten Instrumente eines positiven Wandels in Europa werden.“

Der „Prager Appell“ richtet sich gegen die Teilung Deutschlands und benennt deren Überwindung als Schlüsselproblem zur Einigung Europas.

Europa | Quelle: ABL

PDF Download: Wir können einigen bisherigen Tabus nicht aus dem Weg gehen Bild: vusta/iStockphoto„Wir können einigen bisherigen Tabus nicht aus dem Weg gehen.“
Neben der Deutschlandfrage und dem Souveränitätsproblem in Europa mahnt die Charta 77 an, Möglichkeiten zu finden, die eigenen Regierungen zur Einhaltung von unterschriebenen internationalen Verträgen zu verpflichten. (Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft)

 

Die Antwort der DDR-Opposition unterstützt zwar den Abzug der Besatzungstruppen aus Europa und die Auflösung der Militärblöcke, bleibt aber zurückhaltend bei der Frage der Wiedervereinigung.

PDF Download: Antwort aus der DDR-Opposition Bild: vusta/iStockphoto„Die deutsche Frage muss in einem gesamteuropäischen Vertragswerk eingebettet sein.“
Mit dem Verweis auf die deutsche Verantwortung, die sich aus dem II. Weltkrieg ergibt, müsse die Souveränität Deutschlands die Interessen aller anderen Völker Europas berücksichtigen. (Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft)

Europa | Quelle: ABL

Plakat alternative Liste

Auch westdeutsche Friedensgruppen stehen der Wiedervereinigung skeptisch gegenüber. So antwortet die Westberliner Partei „Alternative Liste“, der Appell der Charta 77 „zäume das Pferd vom Schwanz her auf“.

Alternative Liste Berlin:
„Wir sehen es daher nicht als eine friedenspolitische Strategie an, den Deutschen vorzuschlagen, eine Verbindung ihrer beiden Staaten in den gegenwärtigen Grenzen durch einen Friedensvertrag zu suchen. Wenn ein solcher Vertrag überhaupt einen Sinn haben soll, dann nur, wenn er mit beiden deutschen Staaten geschlossen wird, also die Zweistaatlichkeit festschreibt. Darin mögen sich unsere Perspektiven unterscheiden: Wir verzichten von uns aus auf eine Wiedervereinigung, da diese den Prozeß einer Annäherung in Europa eher behindert als erleichtert.“

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

 

Je mehr die Wirklichkeit Ende der 1980er Jahre von der europäischen Dimension geprägt wird, umso stärker drängt sich die deutsche Frage auf. Bei seinem Besuch in Prag 1987 prägte der Staatschef der Sowjetunion Michael Gorbatschow den Begriff des „Europäischen Hauses“. Unter Oppositionellen entsteht ein schwieriger Diskurs. Welche Rolle spielt der „Mieter“ DDR?

Plakat Statt-KirchentagDiese Frage wird auch am 8. Juli 1989 in Leipzig diskutiert. Vom 6.-9. Juli 1989 findet hier der Evangelische Kirchentag statt. Auf Druck der SED-Führung werden systemkritische Basisgruppen ausgeschlossen. Aus Protest gegen den Ausschluss organisiert Pfarrer Christoph Wonneberger in der Lukaskirche parallel einen „Statt-Kirchentag“, an dem ca. 2.500 Menschen teilnehmen. Hier findet eine „Europäische Hausversammlung“ in Form einer Podiumsdiskussion statt.

 

Moderator Christoph Wonneberger (Mitte):

„Ich möchte die Rolle der Wohnung da in der Mitte im ersten Stock, die durch eine Trennwand geteilt ist, ansprechen. Was hat diese getrennt lebende Familie, wo der eine Teil ständig am Schlüsselloch hängt und schaut, was auf der anderen Seite los ist? Was könnte diese Familie in dem Haus für eine Rolle spielen?“

v.l.: Ludwig Mehlhorn (DDR), Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“

Hester Minnema (Niederlande), Internationale Helsinki Föderation für Menschenrechte

Christoph Wonneberger (DDR), Moderator

Edelbert Richter (DDR), Theologiedozent in Erfurt

Erhard Eppler (BRD), Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission

 

Gerd Poppe: „Im Nachhinein muss man sagen, dass sie recht hatten.“
Der Mitautor des Antwortschreibens auf den „Prager Appell“ der Charta 77 reflektiert den Standpunkt von 1985. Die großen Veränderungen bereits vier Jahre später waren zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Gerd Poppe

Die Frage der deutschen Wiedervereinigung bleibt bis 1990 eine ambivalente. EIN Deutschland scheint nur im Rahmen eines „Europäischen Hauses“ möglich. Die Opposition wird in dieser Frage von den Ereignissen 1989/90 überrollt.

 

Lebenslauf Stephan Bickhardt

  • 1959 in Dresden geboren
  • 1976 - 1988 Aktion Sühnezeichen
  • 1977/78 Lehre zum Werkzeugmacher
  • 1979 – 1986 Studium der Theologie und Pädagogik in Naumburg
  • Mai 1985 Mitorganisator der "Initiative für Blockfreiheit in Europa"
  • Seit 1986 Kontakte zur Initiative Frieden und Menschenrechte Herstellung und Verbreitung von Samisdat-Literatur (Radix-Verlag)
  • Herbst 1986 Mitinitiator von "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung"
  • Frühjahr 1989 Mitautor des "Aufruf Neues Handeln" (Aufstellung unabhängiger Kandidaten und zur Kontrolle der Auszählung der Kommunalwahlergebnisse vom 7.5.1989) September
  • 1989 Mitbegründer von Demokratie Jetzt (DJ)
  • 1990 Geschäftsführer, Mitglied im Sprecherrat und Länderausschuss von DJ
  • ab 1991 Pfarrer in Eberswalde, Leipzig, Markleeberg
  • seit 2007 Polizeiseelsorger, Leipzig


Lebenslauf Gerd Poppe

  • 1941 geboren
  • 1959 bis 1964 Physikstudium in Rostock
  • 1965 bis 1976 Physiker im Halbleiterwerk Stahnsdorf
  • seit der Niederschlagung des Prager Frühling 1968 in der politischen Opposition
  • Organisation verschiedener informeller Gruppen
  • 1977 bis 1984 Maschinist in einer Berliner Schwimmhalle
  • 1980 bis 1989 generelles Auslandsreiseverbot
  • 1984 bis 1989 Ingenieur beim Diakonischen Werk
  • Mitinitiator der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ 1985
  • Mitherausgeber und Autor in verschiedenen illegalen Publikationen
  • 1989/90 Mitglied am Zentralen Runden Tisch der DDR
  • 1990 bis 1998 Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90 / Die Grünen
  • 1998 bis 2003 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung

 

Epochenjahr 1968

Die UNO hatte das Jahr 1968 zum „Internationalen Jahr der Menschenrechte“ erklärt. Die Verletzung der Menschenwürde passiert jedoch immer auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Ohne Selbstzweifel propagiert auch die SED dieses Anliegen.

DDR-Briefmarken
DDR-Sonderbriefmarken zum - Internationalen Jahr der Menschenrechte | Quelle: ABL

 

Niederschlagung des Prager Frühling

 

Gudrun Jugel: „Für die DDR waren das ganz schlimme Angelegenheiten.“
Über die Westmedien war man auch in der DDR über die neuesten internationalen Trends informiert. Mit der Übernahme des antiautoritären Zeitgeistes stießen Jugendliche, zunächst unpolitisch motiviert, an die Grenzen des Systems. Für Gudrun Jugel endete diese Lebenslust im Gefängnis. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Gudrun Jugel

Interesse
Quelle: Bundesarchiv

 

Reiner Kunze

Rückkehr aus Prag
Dresden frühjahr 1968

Eine lehre liegt mir auf der zunge, doch
zwischen den zähnen sucht der Zoll

(Z.n. Reiner Kunze: sensible Wege, 1969)

 

Die Zeit ist aber auch voller Irritationen und Missverständnisse. In Ost und West werden die Prozesse mit sehr unterschiedlichen Intentionen wahrgenommen.

Im Westen wird mit roten Fahnen demonstriert.

 

Im Osten werden
rote Fahnen verbrannt.

Westberlin, 18.2.1968 Quelle: Bundesarchiv Pfeile Prag, 21.8.1968 Quelle: Archiv hlavního města Prahy
Westberlin, 18.2.1968
Quelle: Bundesarchiv
  Prag, 21.8.1968
Quelle: Archiv hlavního města Prahy

 

Der Ruf nach „Freiheit“ in der ČSSR wird von den Studenten im Westen als ein „Rückfall“ in eine bürgerliche Gesellschaft interpretiert. Dem Osten ist der im Westen verwendete marxistische Jargon suspekt. Während man ihn im Osten loswerden will, benutzt man ihn im Westen, um sich vom Establishment abzugrenzen.
Aus diesen verschiedenen Erfahrungshorizonten ergibt sich ein unterschiedliches Erinnern an „1968“ in Ost und West.

 

Rolle der DDR bei der Invasion

Neues Deutschland: Geheimes Waffenlager entdecktDie Verbindung von Sozialismus, Demokratie und Freiheit in der ČSSR hat eine derartige Ausstrahlung in die DDR, dass sie von der SED als unmittelbare Bedrohung empfunden wird. Die SED gehört zu den schärfsten Gegnern des Reformprozesses in der ČSSR und befürwortet eine militärische Lösung. Dementsprechend startet das SED-Blatt „Neues Deutschland“ im Juli eine regelrechte Pressekampagne gegen die „Revisionisten“ in der Tschechoslowakei.

Höhepunkt ist die Meldung vom 20. Juli 1968, der zufolge ein geheimes amerikanisches Waffenlager entdeckt wurde. In der Tschechoslowakei dagegen verdächtigt man die DDR-Staatssicherheit, dieses Lager angelegt zu haben, um Beweise für einen bevorstehenden Angriff der „Konterrevolutionäre“ in der ČSSR zu lancieren.

 

Plakat: Die NVA wurde 1956 gegründet. Quelle: Bundesarchiv

Seit dem 29. Juli 1968 unterstehen zwei Divisionen der NVA dem sowjetischen Oberkommando. Eine Panzerdivision befindet sich im Raum Weißwasser und eine Motorisierte Schützendivision im Raum Eisenberg - Weida. Die Planungen sehen zunächst einen aktiven Einsatz deutscher Truppen vor: Die Panzereinheiten sollen beim Überschreiten der Grenze den Raum an der Elbe einnehmen und bei Bedarf mit nach Prag vorstoßen.
Für die andere Division werden zwei Operationen geplant. Zunächst soll sie die Grenze zur Bundesrepublik absichern und danach gegebenenfalls bis Plzeň marschieren.

Plakat: Die NVA wurde 1956 gegründet. Quelle: Bundesarchiv

 

NVA
Truppenbesuche in den Wäldern der DDR, 5.9.1968 | Quelle: Bundesarchiv

„Nieder mit einem neuen heimtückischen München“
In einem Aufruf des tschechoslowakischen Rundfunks an die Soldaten der NVA wird in der Invasion eine Parallele zur Besetzung nach dem Münchner Abkommen von 1938 durch Nazi-Deutschland gesehen. (Quelle: Deutsche Nationalbilbliothek)

Erst am Vorabend der Invasion werden die deutschen Einheiten durch einen sowjetischen Befehl in die Reserve versetzt. Ein Vergleich mit der deutschen Besetzung von 1938/39 läge sonst auf der Hand. Obwohl der NVA-Führung mehrfach mitgeteilt wird, dass eine aktive Beteiligung der deutschen Truppen geplant sei, ergeht letztendlich kein Einsatzbefehl.

Durch Herrnhut (Oberlausitz) rollen sowjetische Panzer in Richtung tschechische Grenze. | Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf
Durch Herrnhut (Oberlausitz) rollen sowjetische Panzer in Richtung tschechische Grenze. | Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf

Auch wenn die NVA nicht in Divisionsstärke einmarschiert, so leistet die DDR jegliche Unterstützung nicht nur als Aufmarschgebiet. Erst am 31.8. werden die deutschen Truppen aus dem eigentlichen Kampfverband herausgelöst und am 11.9. die „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ aufgehoben.

Reinhard Bohse: „Die Generäle hörten RIAS“
Als Grundwehrdienstleistender erlebte Reinhard Bohse die Vorbereitungen der NVA auf die Invasion. Seine Einheit (Bekämpfung von chemischen Kampfmitteln) gehörte zur 7. Panzerdivision, die sich in den Wäldern der Lausitz eingegraben hatte. Durch Zufall kam er am 21. August in den Generalstab. (Quelle: ABL)

Lebenslauf Reinhard Bohse

Quelle: Umweltbibliothek GroßhennersdorfUnterdessen wird die Grenze zur ČSSR unter dem Aktionsnamen „Sperrmauer“ dicht gemacht und ähnlich wie an der Westgrenze eine 5-km-Sperrzone errichtet. In das Sperrgebiet kommt man nur mit einem Berechtigungsschein, den man sich bei der Polizei holen muss.
Daraufhin beschweren sich z.B. Gastronomen über Umsatz- und Einkommensausfälle. Andere müssen ihren Arbeitsplatz kurzfristig wechseln.

 


Tschechische Parole an einem Grenzübergang in der Oberlausitz | Quelle: Umweltbibliothek Großhennersdorf

„Meine volle Zustimmung gehört den Genossen der sozialistischen Länder“ vs. „Das ist beschämend“
Die platten Propagandaberichte der SED sind für viele DDR-Bürger durch eigenes Erleben überprüfbar. Sie empfinden die Invasion als das was es ist, als „Unrecht“. Ihr Legitimationsproblem löst die SED durch eine großangelegte Zustimmungskampagne, die gleich einer Gesinnungskontrolle ist. (Quelle: Deutsche Nationalbilbliothek)


Quelle: Neues Deutschland, 25.-27.8.1968

Die SED lässt sich das „Ja“ für ihre Invasions-Politik schriftlich geben. Sie fordert die Unterschrift eines jeden in sogenannten „Zustimmungserklärungen“. An dieser Unterschrift hängen fortan Bildungschancen und Karriereaussichten. Viele Menschen befinden sich in einem Gewissenskonflikt: Soll ich wider besseren Wissens unterschrieben?
In einer Ablehnung der „Zustimmung“ sieht die SED die „schärfste Form“ der Kritik. Dieser Druck lässt die Menschen unterschreiben, um „Ruhe“ zu haben, trotz gegenteiliger Meinung.

 

Proteste

Für die Wahrnehmung des Prager Frühlings in der DDR ist die Auseinandersetzung mit der neuen Verfassung nicht unerheblich, die per Volksentscheid am 6. April 1968 beschlossen wird. Darin ist u.a. der Führungsanspruch der SED festgeschrieben. Die kommunistische Partei deklariert das Meinungsmonopol für sich. Angesichts der Entwicklungen im Nachbarland ein Rückfall in den Stalinismus. Einmalig in der DDR-Geschichte ist das Procedere: Die Volksabstimmung bietet eine klare Alternative - Ja oder Nein.

Quelle: Staatsarchiv Leipzig, BStU

Im Vorfeld der Abstimmung tauchen viele Flugblätter auf, wie hier in Leipzig. Vielerorts wird daran appelliert, die legale Einmischung wahrzunehmen. Letztendlich wird die Verfassung mit überwältigenden 94% angenommen. Doch immerhin räumt die SED-Führung so viele Nicht- und Neinwähler (6%) ein, wie vorher und später nicht wieder. Daher stellt sich die Frage, ob die in der Bevölkerung weithin akzeptierten tschechoslowakischen Prozesse hier Einfluss auf die SED-Führung geübt haben. Sollte der Eindruck suggeriert werden, man akzeptiere einen gewissen „Pluralismus“?

 

Schriftzug in Prag: O.-Deutsche schämt Euch! | Quelle: ABL / B. StevenDer im August folgende Einmarsch hat viele unpolitische Menschen bestürzt und empört. Während die älteren Bürger fast ausschließlich in Gesprächen in ihrem Umfeld protestieren, äußern sich Teile der Jugend in aktionsbetonten Protestformen. Die Staatssicherheit stellt fest, es habe noch nie so viele „Schmierereien“ in so kurzer Zeit wie nach dem 21. August gegeben. Schwerpunkt ist Ostberlin, gefolgt von den Grenzbezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz).
Allein in Berlin tauchen 3.500 Flugblätter auf. Das entspricht ⅓ aller registrierten Flugblätter. Bis Oktober 1968 werden 1.200 Personen (84 % Arbeiter, 4% Bauern, 8,5% Schüler und Studenten) verurteilt, ¾ davon sind unter 30 Jahre. Überwiegend sind die Festgenommenen junge Facharbeiter. Im März 1969 berichtet Stasi-Chef Mielke, es habe 2.100 Protestakte gegeben. Allein in der Woche nach der Invasion zählt die Polizei 1.742 relevante Straftatbestände.
(vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Vortrag 2008, Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung)

 


Mauer mit Losungen

 


Leipziger Innenstadt-Passage mit „Nahaufnahme von der mit Kreide angebrachten Schmiererei“ (z.n. Staatssicherheit) | Quelle: BStU

Strafgesetzbuch der DDR!In Mühlhausen, Erfurt, Gotha, Lübbenau und Zwickau kommt es unmittelbar nach dem Einmarsch zu „losen“ Straßenansammlungen mit eindeutigem Demonstrationscharakter. Ähnliches passiert vor der Botschaft der Sowjetunion in Berlin.
Andernorts (z.B. Weimar, Ilmenau) werden geplante Demonstrationen im Vorfeld durch Verhaftungen unterbunden.
Mit dem Straftatbestand „Zusammenrottung“ hat sich die SED gerade (1968) eine Sanktionsmöglichkeit für derartige „Delikte“ geschaffen und greift hart durch.

 

PDF Download: Lage im Bezirk Dresden vom 1.-31. August 1968 Bild: vusta/iStockphoto„Diese hohe Zahl der Vorkommnisse war bei anderen politischen Ereignissen nicht vorhanden.“
In diesem Zeitraum zählt die Staatssicherheit allein im Bezirk Dresden 444 „Vorkommnisse“. Neben diesen konkreten Aktionen breitet sich unter der Generation, die den Krieg erlebt hat, eine diesbezügliche Krisenstimmung aus. Man beginnt sich mental („Hamstereinkäufe“), auf einen eventuellen Krieg vorzubereiten.

Überwiegend handelt es sich um einen spontanen und sehr individuellen Protest:

Christoph Wonneberger, Rostock: „Man wusste nicht, ob auch Deutsche dabei waren.“
Seine Semesterferien verbringt Christoph Wonneberger in Prag und erlebt den Einmarsch am 21. August. Er unterstützt den Protest, in dem er Flugblätter ins Deutsche überträgt und mit verteilt. Bei seiner Einreise in die DDR hat er wichtige Dokumente und seine Bilder im Rucksack.
(Quelle: ABL)
Lebenslauf Christoph Wonneberger

Fotos vom Einmarsch, die Christoph Wonneberger mit seiner Kleinbildkamera gemacht hat und dann zu Hause selbst entwickelt hat:

  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7

Gerd Poppe, Berlin: „Das war ein Schlüsselerlebnis.“
Spontan schreibt Gerd Poppe zusammen mit Freunden eine Solidaritätserklärung für die Repräsentanten des Prager Frühlings. Es sei das Mindeste, was sie hätten tun können. Für Gerd Poppe wird die Niederschlagung des Prager Frühlings zum Ausgangspunkt einer kontinuierlichen oppositionellen Arbeit. (Quelle: ABL)
Lebenslauf Gerd Poppe

Strafgesetzbuch der DDR!Beatrice Steven, Leipzig: „Wir wollten ein klein wenig Schuld abtragen.“
Beatrice Steven ist in den 1960er Jahren oft in der ČSSR. Sie genießt die dortige offenere Atmosphäre. Im August 1968 erlebt sie in Prag den Einmarsch. Die historischen Ereignisse verfolgt sie auch mit ihrer Kamera. Die Bilder bleiben vorerst in Prag, damit ihr diese bei den Grenzkontrollen nicht abgenommen werden. Erst im Frühjahr 1969 schmuggelt Beatrice Steven die Fotos nach Leipzig. Gut versteckt, fanden sie erst nach der Friedlichen Revolution in der DDR den Weg in die Öffentlichkeit.

 

Einmarsch!„Der Morgen des 21. August begann mit der Mitteilung, dass die Warschauer-Pakt–Truppen einmarschiert sind. Meine Freundin und ich liefen in die Stadt, denn es fuhr keine Straßenbahn. Je mehr man sich dem Stadtzentrum näherte, wurde es unheimlicher: von den Panzern zusammen gefahrene Fahrzeuge, zum Teil brennend. Ich ließ mich von der Menschenmenge in Richtung Nationalmuseum leiten und weiter zum Rundfunkgebäude. Ich war schockiert, wie es da aussah. Wie Krieg.“

Einmarsch!„Der Wenzelsplatz mit dem Denkmal des Heiligen Wenzel wurde so etwas wie ein Wallfahrtsort. Immer wieder gab es stumme, darauf wurde Wert gelegt, Protestmärsche, wobei die mitunter blutdurchtränkte Fahne, die „Trikolore“ – rot-weiß-blau, mitgeführt wurde.“

 

Einmarsch!„Auf dem Wenzelsplatz sammelte ein junger Mann Unterschriften gegen den Einmarsch. Er war aus der DDR. Wir gesellten uns zu ihm und machten von da an einfach mit. Ungefähr 5 oder 6 Tage ging das. Die Menschen fragten uns oft, warum wir das machen. Wir wollten unseren Protest zeigen und dabei ein klein wenig die Schuld, die die DDR auf sich geladen hatte, abtragen. Die Unterschriftenlisten wurden dann an einen Mittelsmann vom Rundfunk übergeben. Durch die Besetzung des Rundfunks durch die Russen, arbeiteten diese im Untergrund.“

Als Leipzigerin erlebte Beatrice Steven bereits im Mai 1968 die Willkür des kommunistischen Systems ganz nah. Ungeachtet eines vielfältigen Protestes lässt die SED am 30. Mai die völlig intakte und mit Leben gefüllte Universitätskirche sprengen. Die über 700-jährige Kirche stand der „sozialistischen Neugestaltung“ des Stadtzentrums im Wege. Ulbricht hatte dabei ein persönliches Interesse bei der „Gestaltung“ seiner Heimatstadt. (Quelle: ABL/B. Vit)

Lebenslauf Beatrice Steven

 

Strahlkraft des Prager Frühlings

In der tschechoslowakischen Gesellschaft wird ab 1969 die „Normalisierung“ durchgesetzt. Das Jahr 1968 endet auch in der DDR mit einer politischen Hoffnungslosigkeit und Apathie. Auch wenn die DDR und der Sozialismus für diese Generation diskreditiert sind, richtet sich doch die Mehrheit ein. Das kurzeitig aufflammende Protestpotential zeigt keine anhaltende Wirkung und es kommt zu keiner Reformdiskussion in der DDR.

Leipzig, 6.11.1989 | Quelle: ABL / B. HeinzeBetrachtet man den Prager Frühling jedoch als Möglichkeit einer Liberalisierung auf der kulturellen, sozialen und politischen Ebene, dann dauert er nicht nur wenige Monate sondern einige Jahre. Die Panzer haben die Idee einer Emanzipation nicht tilgen können.
Auch wenn der Gesellschaftsentwurf des Prager Frühlings im Herbst 1989 keine Rolle mehr spielt, so verankert sich das Jahr 1968 als Diskurs- und Protesterfahrung im kollektiven Gedächtnis. Das macht die Strahlkraft des Prager Frühlings aus.

 

Sprechblasen

Fallen konnte die Mauer nur in Berlin, aber ihre Öffnung ist das Ergebnis eines gesamteuropäischen Prozesses, der ohne die Demokratiebewegung im östlichen Europa undenkbar ist. Die Strahlkraft des Prager Frühlings spielt dabei eine sehr entscheidende Rolle.

 

Lebensläufe

Beatrice Steven

  • Jahrgang 1945
  • Konstrukteurin
  • Mitglied der katholischen Gemeinde (Propsteigemeinde "St. Trinitatis") in Leipzig. Die Gemeinde nutzte die Universitätskirche nach dem II. Weltkrieg für ihre Gottesdienste bis zu ihrer Sprengung am 30. Mai 1968.
  • Beatrice Steven dokumentierte die doppelte Enttäuschung von Leipzig und Prag

Gerd Poppe

  • 1941 geboren
  • 1959 bis 1964 Physikstudium in Rostock
  • 1965 bis 1976 Physiker im Halbleiterwerk Stahnsdorf
  • seit der Niederschlagung des Prager Frühling 1968 in der politischen Opposition
  • Organisation verschiedener informeller Gruppen
  • 1977 bis 1984 Maschinist in einer Berliner Schwimmhalle
  • 1980 bis 1989 generelles Auslandsreiseverbot
  • 1984 bis 1989 Ingenieur beim Diakonischen Werk
  • Mitinitiator der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ 1985
  • Mitherausgeber und Autor in verschiedenen illegalen Publikationen
  • 1989/90 Mitglied am Zentralen Runden Tisch der DDR
  • 1990 bis 1998 Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90 / Die Grünen
  • 1998 bis 2003 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung

Christoph Wonneberger

  • geb. 1944 in Wiesa (Kr. Annaberg)
  • 1960 - 1963 Ausbildung zum Maschinenschlosser
  • 1963 – 1965 Sprachstudium am Theologischen Seminar in Leipzig, anschl.bis 1970 Theologiestudium in Rostock
  • Vikar in Dresden
  • 1974 Gemeindepfarrer in Taucha (b. Leipzig)
  • 1977 – 1984 Pfarrer der Dresdner Weinbergsgemeinde
  • 1985 Pfarrer in der Lukas-Gemeinde in Leipzig
  • 1986 Gründung der Oppositionsgruppe „ Arbeitsgruppe Menschenrechte“ (AGM) – schwere Konflikte mit staatlichen und kirchlichen Stellen
  • Sept. / Okt. 1989 Verantwortung für die Friedensgebete in der Nikolaikirche und Mitorganisator der anschl. Demonstrationen
  • Ende Oktober 1989 Schlaganfall
  • Seit 1991 Ruhestand

Reinhard Bohse

  • geb. 1948 in Leuben bei Lommatzsch (Sachsen)
  • 1963 bis 1967 Abitur mit Berufsausbildung (Gärtner)
  • Jazzmusiker (Amateurstatus)
  • 1969 bis 1973 Geologiestudium an der Bergakademie Freiberg
  • 1973 Bergbau in Regis-Breitingen
  • 1974 Bezirksstelle für Geologie Leipzig beim Rat des Bezirkes Leipzig
  • 1982 Lektor beim Touristverlag in Leipzig, postgraduales Studium des Verlagswesen an der Karl-Marx-Universität Leipzig
  • 1989 Mitbegründer des Forum-Verlages, Leipzig
  • 1990 Pressesprecher der Stadt Leipzig
  • Heute: Pressesprecher der Leipziger Verkehrsbetriebe GmbH

Gudrun Jugel

  • geb. 1951 in Leipzig
  • 1965 Erweiterte Oberschule, nach der 10. Klasse der Schule verwiesen
  • August 1968 Verhaftung wegen „asozialen Verhalten“, Erpressung zur Inoffiziellen Mitarbeiterin für die Staatssicherheit mit dem Versprechen eher aus dem Gefängnis zu kommen, Absitzen der vollen Strafe von 2 Jahren in Hoheneck.
  • 1970 Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG)
  • Stadtkabinett für Kulturarbeit – Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Gerulf Pannach und der Klaus-Renft-Combo, Dekonspirierung gegenüber Freunden
  • 1972 Umzug nach Neukiritzsch, Die Stasi lässt sie von nun an in Ruhe.
  • Kauffrau, Ingenieurin für Energiewirtschaft
  • ab 1983 / 84 Umweltbeauftragte in ihrem Lippendorfer Betrieb
  • 1990 Runder Tisch in Borna für das Neue Forum
  • 1995 Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst wegen ihrer "Stasimitarbeit“

 


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