Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Der Berliner Stadtjugendpfarrer attestiert der Jugend eine konservative Einstellung. Sie richte sich in den Grenzen der DDR mit einem kleinen Wohlstand ein. Und das reicht. Er vermisst Engagement und Überzeugung. Die Mehrheit hat sich mit dem Status Quo abgefunden. Auch in der FDJ fehle die Leidenschaft für die sozialistische Idee.

 

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Bild 1: Kleiner Wohlstand in Budapest, 1987, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Rainer Kühn
Bild 2: Kleiner Wohlstand in Berlin, 1985, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Mahmoud Dabdoub
Bild 3: Kleiner Wohlstand in Leipzig, 1986, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Mahmoud Dabdoub
Bild 4: Schlange am Schallplattenladen, Leipzig, Mitte 1980er Jahre, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Mahmoud Dabdoub

 

Biografisches:

Martin-Michael Passauer (Jg. 1943)

  • ab 1957 Evangelisches Gymnasium in West-Berlin, nach dem Mauerbau
  • 1961 Kirchliches Oberseminar Potsdam
  • 1962 – 1967 Theologiestudium in Greifswald und Berlin
  • 1968/69 Predigerseminar in Brandenburg (Havel)
  • 1969 Pfarrer in Berlin-Weißensee
  • 1975/76 amtierender Superintendent
  • bis 1984 Stadtjugendpfarrer in Berlin
  • 1984 Pfarrer in Berlin-Mitte
  • 1988 – 1991 persönlicher Referent von Bischof Gottfried Forck

 

Gesprächsprotokoll:

Länge: 48 min

Berliner Stadtjugendpfarrer über die Hinwendung Jugendlicher zur Jungen Gemeinde

Martin-Michael Passauer hat die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen gegenüber der Kirche offener geworden sind, weil sie in der Kirche ihre Meinung sagen können. Er macht diese Erfahrung am Beispiel der Mitnahme von Trampern fest. Er spricht über die Notwendigkeit der sozialen Reibung zwischen den Generationen und reflektiert, dass seine Generation, die 35- bis 45jährigen, viel Nachsicht zeigen. Dabei erzählt er von seinen Erfahrungen mit seiner eigenen Tochter. Er attestiert der Jugend kein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein, auch was die nationale Frage, die Deutschlandproblematik betrifft. Knackpunkt des Geneartionenkonflikts ist das Wohlstandsdenken der Eltern. Einige Kinder von Eltern im kirchlichen Dienst engagieren sich im Konflikt mit ihren Eltern gesellschaftlich. Die Mehrheit richtet sich jedoch im Rahmen des kirchlich Möglichen ein. Passauer stellt sich die Frage, was gegenwärtige weltpolitische Ereignisse sind, die prägend auf die Jugendlichen wirken. Prinzipiell richten sich die Jugendlichen im Sozialismus ein und entwickeln Strategien für einen bescheidenen Wohlstand. Passauer fehlt im Unterschied zum Anfang der 1970er Jahre die Vehemenz der Jugend. Man passt sich an. Ihm fehlt auch die Überzeugung bei FDJlern für ihre Sache. Die meisten Jugendlichen, auch im kirchlichen Raum, passen sich an, was auch vom Elternhaus geprägt ist. Wenige bewahren sich eine Distanz. Ihr Leben wird nicht durch den Beruf bestimmt. Passauer nennt sie „Halbaussteiger“. In Berlin findet man darüber hinaus Gruppen von Jugendlichen, die sich über besondere Modetrends definieren. Eine Gruppe (vermutlich Punks) kommt immer mehr in die Kirche. Diese hat einen hohen Orientierungsbedarf. Dieser Zustrom stößt jedoch bei bibelfesten (evangelikalen) Gruppen auf scharfe Kritik. In diesem Zusammenhang reflektiert Passauer über die Spiritualität unter Jugendlichen und macht Erfahrungen mit Meditationen an seiner Tochter fest. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass Passauer eine große Gefahr für die Gesellschaft und die Kirche darin sieht, dass viele sich zwar anpassen, aber sich innerlich verweigern. Niemand liefert den Jugendlichen die Antworten, die sie für ihr Leben brauchen. Die Lebensmaxime heißt nicht auffallen - weder im Positiven noch im Negativen. Das Streben nach Erfolg wird beargwöhnt. Für diese Diskussion bietet die Gesellschaft auch keinen Raum, so dass manche Jugendliche nach Alternativen suchen. Bestandteil der wachsenden Distanz ist die Abstinenz vom Fernsehen. Es findet auch kein Generationengespräch statt, um Jugendlichen eine Orientierung zu geben.

Kritisch sieht Passauer die vielen jung vollzogenen Ehen und damit im Zusammenhang stehende Geburten. Die Eltern wären froh über die staatliche Aufbewahrung ihrer Kinder (Kindergarten, Hort, Ferienlager).

Abseits von materiellen Bedürfnissen stärken Freundschaften eine Gruppenbindung und ersetzen teilweise das fehlende Generationengespräch. Passauer ist aber auch ratlos, wie eine partizipierende Jugend entstehen kann. Er hat aber das Gefühl, dass, bisher zwar unartikuliert, eine andere Stimmung gärt. Momentan jedoch herrsche unter den Jugendlichen wenig Bewusstsein für Lebensverantwortung. Man sehe es auch an den frühen Geburten von Kindern, ohne dass junge Leute in gesicherten Strukturen leben (Studium, Ausbildung, Wohnung)

Auch der emanzipatorische Impuls der westlichen Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre spiele heute keine Rolle. Es wirke wie Erzählungen von Bismarck. Trotzdem macht Passauer Momente sozialen Engagements aus, was er wieder an seiner Tochter erklärt, die in einem Behindertenheim aktiv ist. Für ihn bleibt aber der nicht zu lösende Spagat zwischen Ausbildung und Familienplanung.


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