Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Die Ausreisewelle über Ungarn im Sommer 1989 schätzt der Schriftsteller nicht als systemgefährdend ein. Er zitiert aus seinem Anfang 1989 im Westen erschienen Buch „Ostberlin, die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern“ (zusammen mit Harald Hauswald). Durch das Thema „Ungarn“ seien die Menschen beschäftigt und es lenkt von einer notwendigen Reformdebatte in der DDR ab.

 

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Bild 1: Lutz Rathenow beim Interview 1989, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig
Bild 2 bis 4: Budapest, 1986, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig / Mahmoud Dabdoub

 

Biografisches:

Lutz Rathenow (Jg. 1952)

  • Schriftsteller
  • 1973 Studium der Germanistik und Geschichte in Jena, Gründung oppositioneller Zirkel
  • 1978 freischaffender Schriftsteller
  • ab 1980 Veröffentlichungen in Westdeutschland
  • Akteur in der unabhängigen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung

 

Gesprächsprotokoll:

Länge: 14:00 min

Rathenow spricht über die Stimmung im Land. Er macht eine veränderte Politik in der Kultur aus. Eine Auseinandersetzung mit Kunst weicht der Unterhaltung. Die Menschen werden allmählich verbitterter. Doch der Staat versucht, mit gewissen materiellen Zugeständnissen (Bananen) oder Lockerungen (Westreisen) die Stabilität zu halten. In Bezug auf die Gebundenheit der DDR an die BRD („siamesische Zwillinge“) glaubt er, dass nur eine linke Perspektive den Frieden in Mitteleuropa dauerhaft sichern kann.

Ironisch gemeint befördere die Staatssicherheit die Entwicklung einer Opposition, da sie durch ihre Schikanen die Menschen aktiv mache. Ähnliche Wirkung habe die Tagespresse. Auf die oppositionellen Gruppen bezogen erkennt er zu wenige gesellschaftliche Alternativen. Da hänge damit zusammen, dass sich in andersdenkenden Kreisen vor allem Linke versammeln. Doch die breite Masse hat mit dem Sozialismus nichts mehr am Hut. Als Dialogpartner brauche es also eine Opposition unabhängig von intellektuellen Milieus.

Anders als in den anderen osteuropäischen Staaten müssen die Probleme in einem deutsch-deutschen Zusammenhang gelöst werden. Daher müssen auch die emanzipatorischen Akteure beider deutscher Staaten zusammenarbeiten. Westdeutschland könne man nicht aus der Verantwortung nehmen. Die Integration der Opposition in die Kirche empfindet er als kontraproduktiv hätte dies bei der Verhaftung von Stephan Krawczyk, Freya Klier und anderen gemerkt. Die Kirche ist nicht die Opposition in der DDR, wie es manchmal aus dem Westen heraus erscheint. Er als Künstler und Individualist steht einer irgendwie gearteten Organisationsform der Opposition kritisch gegenüber. Er persönlich wird sich auch nicht organisieren.

Die Probleme können nur durch Dialog gelöst werden - auch mit den Andersdenkenden, in dem Fall die SED. Daher müssen oppositionelle politische Gruppen sich auch mit reformbereiten Leuten in der Partei auseinandersetzen. Für die SED hätte eine stärkere Opposition auch einen Vorteil, denn die könne helfen, aufgestauten Unmut in sinnvolle Bahnen zu lenken, bevor es zur Katastrophe kommt. Eine solche Katastrophe ist die Ausreisewelle noch nicht. Die sieht er nicht als systemgefährdend an und zitiert aus seinem am Jahresanfang bei Piper erschienen Buch „Ostberlin, die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern“ (zusammen mit Harald Hauswald). Die Ausreisewelle sei eher systemstabilisierend, denn sie lenkt ab und die SED müsse nicht über die Verfasstheit des Staates reden.

 


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