(Fan-) Reisen
Grenzübergang zur ČSSR im Elbsandsteingebirge (Schmilka), 15.1.1972 | Quelle: Bundesarchiv
Nachdem am 1. Januar 1972 die Grenzen nach Polen geöffnet werden, ist es zwei Wochen später auch möglich, in die ČSSR nur unter Vorlage des Personalausweises zu reisen. Als jedoch in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność legalisiert wird, schließt die SED am 30. Oktober 1980 wieder die Grenzen nach Osten.
Die ČSSR ist nun das einzige zu bereisende Land für die Menschen in der DDR ohne Pass und Visum.
Man bleibt zwar willkürlichen Zollkontrollen ausgeliefert, doch man kann die Grenze relativ problemlos passieren. Die ČSSR ist daher, neben der touristischen Bedeutung, ein wichtiger Ort für deutsch-deutsche Begegnungen auf privater Ebene. Hier trifft man sich mit westdeutschen Verwandten und Freunden. Dieser Umweg ist oft nötig, denn wer einmal aus der DDR in die Bundesrepublik ausgereist ist, kann für viele Jahre nicht wieder einreisen.
Zu deutsch-deutschen Sympathiebekundungen im großen Rahmen verhilft der internationale Sport - insbesondere der Fußball. Seit Ende der 1960er Jahre fahren DDR-Fußballfans ihren westdeutschen Stars zu internationalen Spielen, wenn sie in bereisbaren Ländern stattfinden, nach.
Die Auslosungen zu den UEFA-Cup-Spielen, den Gruppenansetzungen für die Qualifikationen zu Europa- oder Weltmeisterschaften werden in der Presse veröffentlicht. Sehr beliebt sind die relativ politikfreien „Sportecho“ (Sport-Tageszeitung) und „Fuwo“ (Fußball-Wochenzeitung). Jetzt können die Reisen geplant werden.
Westdeutsche Spieler, Vereine oder Freunde besorgen die Eintrittskarten für die „ausgegrenzten“ Fans. So waren z.B. 1971 beim Länderspiel der Bundesrepublik gegen Polen in Warschau ca. 3.000 ostdeutsche Fans im Stadion.
„Einleitung operativer Maßnahmen zur Verhinderung dieser Fahrt“
Es entsteht eine regelrechte „Bewegung“, so dass die Staatssicherheit diese kontrolliert und versucht, derartige Fanreisen zu verhindern. Es wird gezielt nach „auffällig“ gewordenen Personen gesucht, um denen die Ausreise zu verwehren.
Das Dilemma für die SED besteht darin, dass sich bei derartigen Fanreisen ein eindeutiges Bekenntnis zur Bundesrepublik äußert, was gleichzeitig eine Ablehnung des SED-Staates impliziert. Gerade der Sport kann über soziale und politische Grenzen hinweg eine relativ einheitliche Identifikation schaffen. Wenn er mit Erfolgen verbunden ist, so die Hoffnung der SED, hilft der Sport ein sozialistisches Nationalbewusstsein bei der Bevölkerung zu erzeugen. Doch ausgerechnet in der publikumsträchtigsten und Massen mobilisierenden Sportart „Fußball“ stellen sich keine Erfolge ein, so dass die „mentale Abwanderung“ nach Westen nicht aufzuhalten ist. |
10.000 Fußballfans in Prag
Der Höhepunkt der Fußballbewegung findet am 30. April 1985 in Prag statt:
Bilder vom Spiel | Quelle: privat
Fan-Tagebuch des Fan-Club West von Chemie Leipzig | Quelle: privat
„In Koordinierung mit den Partnern die Ausreise verhindern.“
Die Staatssicherheit bereitet sich DDR-weit auf das Event vor. Unter der Bezeichnung „Magnet 85“ soll die Ausreise von „negativ-dekadenten“ Personen in die ČSSR verhindert werden. Dabei arbeitet die Stasi mit der Polizei und den Grenzorganen eng zusammen.
Der begeisterte Fußball-Fan der BSG (Betriebssportgemeinschaft) Chemie Leipzig geriet ins Visier der Staatssicherheit, als er mit Freunden den Fan-Club West gründete und eine illegale Fanzeitung mit herausbrachte. Enge Kontakte zum westdeutschen Fanclub des Bonner SC verstärkten den Affront gegenüber der Staatsmacht. Somit fiel Jens Fuge unter die Stasiaktion „Magnet 85“ und ihm wurde die Ausreise zum Länderspiel nach Prag verweigert. (Quelle: ABL)
Bei der Grenzkontrolle wird der Ausreisestempel ungültig gemacht und die Reise endet im Erzgebirge. (Aus: Fan-Tagebuch) | Quelle: privat
Lebenslauf Jens Fuge:
- Jahrgang 1963, in Leipzig geboren
- 1980 - 1982 Lehre als Aufzugsmonteur
- 1983 illegale Herstellung einer Fanzeitung
- 1983/84 massiver Druck der Staatssicherheit, um über ihn in die Fanszene zu kommen
- Ab 1985 unterlag er der „operativen Personenkontrolle“ durch die Staatssicherheit, Ausreiseverbot durch den provisorischen Personalausweis „PM12“
- nach 1985 Gelegenheitsjobs
- Kontakte zur Punkszene
- Ostern 1989 Ausreise nach Karlsruhe
- Seit 1992 wieder in Leipzig, Inhaber einer Werbefirma
Treffpunkt „u Fleku“
Wörterbuch: pi.vo [ˈpɪvɔ] Bier n Pl. pi.va [ˈpɪva]
Das traditionsreiche Brauereirestaurant „u Fleku“ ist für viele Jugendliche aus der DDR der Anlauf- und Treffpunkt in Prag. Über Ostern und Pfingsten etablieren sich regelrechte „Wallfahrten“ zum böhmischen Schwarzbier. Der „Dresscode“ sind lange Haare und das Jeans-Blau.
Mitunter kehren hunderte DDR-Touristen ins „u Fleku“ ein, so dass es wegen Überfüllung geschlossen wird und manche „Zecherei“ läuft derart aus dem Ruder, dass die Polizei eingreifen muss.
Die Staatssicherheit nennt solche Treffs „Schwarzbierfeste“ und versucht wie bei den Fan-Reisen auch hier gegenzusteuern, indem für bestimmte Menschen ein Ausreiseverbot verhängt wird.
Erkennungssymbol der „Kunden“, wie sie sich nennen, ist die u-Fleku-Nadel. An der Jeansjacke getragen weist sie einen als Insider aus.
Alle eint der Wille zur Provokation gegenüber bürgerlichen Moralvorstellungen und das Bedürfnis nach einem Leben unabhängig der verordneten sozialistischen Norm. Den Soundtrack für dieses Lebensgefühl liefert der Blues.
Diese von den Hippies inspirierte Jugendbewegung ist die langlebigste in der DDR.