In der DDR erfährt man wenig über geglückte oder misslungene Fluchtversuche über Bulgarien. Auch die Westmedien berichten kaum etwas darüber. Daher verbreitet sich in der DDR die fatale Vorstellung, es sei weniger gefährlich, über Bulgarien „abzuhauen“. Durch die geografische Entfernung wähnt man sich außerdem weit weg der DDR-Kontrolle. Doch der militärisch bewachte „Eiserne Vorhang“ zieht sich bis nach Griechenland und der Türkei – mit kräftiger Unterstützung des DDR-Geheimdienstes.
Grenzabbau in Bulgarien 1990 | Quelle: ČTK
Im März 1963 schließt die DDR mit Bulgarien einen „Vertrag über die Gewährung gegenseitiger Rechtshilfe in Strafsachen“ ab. Das Abkommen passt sich den veränderten Bedingungen des Mauerbaus von 1961 an. „Republikflucht“ über Bulgarien wird zur Auslieferungsstraftat.
Flucht mit dem Faltboot in die Türkei Stefan Welzk: „Es sollte der Eindruck entstehen, man will im Balaton paddeln.“ Im Juli 1968 gelang Stefan Welzk und mit seinem Freund eine abenteuerliche Flucht mit dem Faltboot über das Schwarze Meer in die Türkei. Nördlich von Varna begann das Unternehmen und sie erreichten mit viel Glück nach 32 Stunden in der stürmischen See die türkische Küste. „1967 wollte ich fliehen, hatte es auch versucht, war aber damit gescheitert. In diesem Sommer hatte ich die feste Absicht zur Flucht. ... Also die Flucht war schon durchgeplant. H. kam mit dem Faltbootangebot so im März oder April. Wir haben uns in Prag getroffen. Das Faltboot war vorher mit der Bahnpost nach Budapest aufgegeben worden, so dass der Eindruck entsteht, man will im Balaton paddeln. Den Motor nahm der eine von uns als angebliches Geschenk mit. Ich nahm die Benzinkanister.“ Vom westdeutschen Konsulat in Istanbul ausgestelltes Dokument zur Weiterreise in die Bundesrepublik. Quelle: privat Stefan Welzk: - Jahrgang 1942 - 1961 bis 1966 Physikstudium an der Universität in Leipzig - 1968 spektakuläre Protestaktionen gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 30. Mai 1968 - Juli 1968 Flucht von Bulgarien über die Türkei in die Bundesrepublik - Journalist - 1990 Vertretung des Landes Schleswig-Holstein im Bundesrat - Arbeitet heute als freier Journalist in Berlin |
Ein regelrechtes „Kopfgeld“ erhalten die Bauern, die im Grenzgebiet wohnen und Flüchtlinge verraten. Darüberhinaus gibt es Indizien, dass die DDR den bulgarischen Grenzsoldaten für jeden gefassten Flüchtling, tot oder lebendig, ebenfalls „Kopfgeld“ zahlt.
Weiterhin weist viel darauf hin, dass Todesopfer einfach im Grenzgebiet verscharrt werden, denn im Februar 1975 treffen Bulgarien und die DDR ein geheimes Abkommen, wonach die Leichen zukünftig zu überführen seien oder auf einem bulgarischen Friedhof bestatten werden sollen.
Warnschild an der bulgarischen Grenze
Der Adressat derartiger Schilder ist eindeutig. Den Eindruck einer „löchrigen“ Grenze verstärkt das bulgarische Regime noch, indem es Grenzsteine zum Schein setzt. So kann man den Markierungsstein zu Griechenland aus der Ferne sehen. Mancher Flüchtling glaubt sich schon am Ziel, doch das scharf bewachte Grenzgebiet beginnt erst dahinter.
Sofia, 19.6.1986: „Wir bitten, die Rückführung in die DDR zu veranlassen.“
Auf Grund des Abkommens von 1963 liefert Bulgarien jeden gefassten Flüchtling an die Staatssicherheit aus. Sie werden mit Sonderflugzeugen in die DDR geflogen und dann zu Haftstrafen verurteilt.
Im Jahr 2011 entstand die Fernseh-Dokumentation „Die Vergessenen. Tod, wo andere Urlaub machen“ von Freya Klier und Andreas Kuno Richter. Die Filmemacher dokumentieren vier sehr unterschiedliche Schicksale von Menschen, die versuchen, über die bulgarischen Grenzen zu fliehen. Damit erschließen sie ein bisher kaum bekanntes Kapitel der DDR-Geschichte für eine breite Öffentlichkeit. Dorothea Ebert: „Im Laufen sehe ich, da liegen Drähte.“ Die Geschwister Dorothea und Michael Proksch aus Dresden wollen im Sommer 1983 über das Kom-Gebirge nach Jugoslawien fliehen. Die Flucht misslingt. Nach 6 Wochen Haft in Sofia werden sie in die DDR geflogen und zu 2 Jahren und 8 Monaten Gefängnis verurteilt. 16 Monaten davon sitzen sie ab. Dann kauft die Bundesrepublik die Geschwister frei. (Quelle: RTL Television) |
Nach neueren Schätzungen soll es bis zu 4.500 Fluchtversuche gegeben haben – mit ca. 100 Todesopfern. An der Berliner Mauer sterben zum Vergleich 136 Menschen.
Staatssicherheit: „Es wurde eine Salve Warnschüsse in die Luft abgegeben.“ Kurz vor ihrer Einberufung in die „Nationale Volksarmee“ (NVA) riskieren Andreas Stützer und Detlef Heiner aus Leipzig einen Fluchtversuch im Pirin-Gebirge. Bulgarische Grenzer erschießen beide am 18. März 1980. Zehn Tage später treffen die Leichname in der DDR ein. Die Stasi sorgt dafür, dass nichts an die Öffentlichkeit dringt. Die Eltern dürfen ihre Kinder nicht sehen und sie erfahren nicht, was mit ihnen passiert ist. |
Seit geraumer Zeit besteht in Deutschland ein Interesse an der Aufklärung der Schicksale von DDR-Bürgern, die bei Fluchtversuchen an der bulgarischen Grenze ums Leben gekommen sind. Erst auf Druck der EU wurden am 4. April 2008 der damaligen Europaabgeordneten Gisela Kallenbach die ersten Akten übergeben.