Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

In jeder Mangelsituation oder durch jedes Verbot entstehen Formen der Selbstorganisation.
Das Bedürfnis zu reisen, ist auch in der DDR sehr groß. Seit den 1970er Jahren nutzen immer mehr Abenteurer und Bergsteiger die Schwächen der Bürokratie aus, um den kleinen „legalen“ Reisehorizont zu erweitern und in die große Sowjetunion zu kommen. Grundlage für derartige „Grenzüberschreitungen“ bildet das kaum bekannte Abkommen über den visafreien Reiseverkehr von 1964.

Quelle: ABL

Vor allem Bergsteiger, deren Ziele der Kaukasus oder die Hochgebirge Mittelasiens sind, besorgen sich über sowjetische Beziehungen eine Einladung, was ein sehr aufwendiges bürokratisches Procedere bedeutet. Das sowjetische Innenministerium legt u.a. eine „Маршрут“ (Marschrut) fest, von der die Gruppen nicht abweichen dürfen. Auf Grund ihres Äußeren (und Gepäcks), das nicht in das mittelasiatische Bild passt, werden sie schnell von der Polizei als Ausländer erkannt und müssen sich permanent „ausweisen“. Doch einmal in den Bergen befindet man sich in einem gewissen „Machtvakuum“ und kann sich relativ frei bewegen.

Georg Renner: Biwak auf dem Dach der Welt, 1975 | Quelle: PrivatDer in der sowjetischen Bergsteiger-Szene bekannte Georg Renner aus Magdeburg liefert durch seine Reisen in den 1960/70er Jahren erste Erfahrungsberichte für nachfolgende Expeditionen. Seine Bücher gehen von Hand zu Hand. Die darin selbstgefertigten Landkarten bilden bis in die 1980er Jahre die Grundlage für manche Bergbesteigung, da die Sowjetunion aus militärstrategischen Gründen kaum Kartenmaterial produziert.
Weitere „Orientierungsmittel“ finden sich in DDR-Bibliotheken. Hier gibt es mitunter noch Material von deutschen Geologen, die vor dem 1. Weltkrieg das Gebiet bereisten.
Eine Expedition in den Pamir, Tienschan oder Fan-Gebirge setzt bei den Teilnehmern neben dem sportlichen Vermögen eine hohe Fähigkeit zur Improvisation und Flexibilität voraus.

 

Buchempfehlung

Transit - Illegal durch die Sowjetunion  Unerkannt durch Freundesland

Eine subversive und abenteuerliche Reise ist mit einem Transitvisum möglich. Mit der notwendigen „Reiseanlage für den visafreien Verkehr“ nutzt man die Sowjetunion als Transitland auf seinem Weg nach Rumänien oder Bulgarien, ohne dass sowjetische Behörden eingeschaltet werden müssen. Der Inhaber ist berechtigt, sich drei Tage in der UdSSR aufzuhalten. Einmal in der Ukraine schlägt man sich auf eigene Faust „unerkannt“ durch das riesige „Freundesland“ durch. Wochen später führt der Weg meist über Rumänien zurück. Bei der Ausreise zahlt man in aller Regel ein Bußgeld in Höhe von 30 bis 300 DDR-Mark wegen Überziehung der Aufenthaltsdauer.
Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wird diese Lücke in der Reiseregelung zu einer permanent anwachsenden „Unerkannt durch Freundesland“ – Bewegung (UdF). Die Ziele und Unternehmungen werden immer spektakulärer und führen weit über das Baltikum und die Gebirge Mittelasiens hinaus nach Kamtschatka, China, die Mongolei …

 

  • 1Duschanbe 1977
  • 10Georgien 1989
  • 2Duschanbe 1977
  • 3Fangebirge 1977
  • 4Pamir 1985
  • 5Pamir 1985
  • 6Pamir 1985
  • 7Pamir 1985
  • 8Samarkand 1982
  • 9Tatschikistan 1985

Einfallsreichtum ist von Nöten, um den vielen möglichen Kontrollen nicht ins „Messer“ zu laufen. Kommt man in Mittelasien noch gut und gern als „Balte“ durch, müssen bei anderer Gelegenheit „Legenden des Hierseins“ erfunden werden. Manchmal wollen sich Milizionäre nicht unnötig Arbeit aufladen oder gar sich ihrem Vorgesetzten verantworten müssen und schieben die UdFler in die benachbarte Sowjetrepublik ab.

Sozialversicherungs-Buch der DDR | Quelle: PrivatAls beeindruckendes „Reisedokument“ bei Kontrollen dient der DDR-Sozialversicherungsausweis. Das für diesen Zweck eigentlich belanglose Büchlein wirkt jedoch von der Größe und dem eingestanzten DDR-Emblem wie ein richtiger Pass. Echtheit und Autorität suggerieren die vielen Stempel und Unterschriften von Arztbesuchen, Blutspenden, Verdienstbescheinigungen. Lesen kann sie der sowjetische Polizist sowieso nicht.

 

Karim Saab: „Ich hatte bis dahin noch nie was von Tschetschenien gehört.“
Fünf mal reiste Karim Saab in den 1980er Jahren illegal in die Sowjetunion. Im Vorfeld wurden Einladungen und Stempel gefälscht, um die Kontrollen in dem „absurden“ Land zu überstehen. Unbekannte Kulturen erweitern das Weltbild. In der Sowjetunion konnte Karim Saab sein Fernweh stillen. (Lebenslauf: Karim Saab)

Ungezählte Menschen nehmen sich die Freiheit, auf ihre Art zu reisen. Alle kommen mit bisher nicht bekannten Kulturen in Berührung und lernen eine andere Wirklichkeit als die der kleinen DDR kennen. Die vielen schönen Erlebnisse und die oft erfahrene Herzlichkeit der einheimischen Bevölkerung relativieren die eigenen Wertvorstellungen.
Darüber hinaus entstehen jenseits der sozialistischen Propaganda und den leeren Worten von der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ neue Weltbilder von der „Großen Ruhmreichen“: Korruption, Armut, ethnische Konflikte, staatliche Verbrechen.

Das Überwinden einer territorialen Demarkationslinie ist das Eine - die unkonventionellen und subversiven Erfahrungen von Freiheit, Abenteuer und Ferne reisen mit zurück in die DDR. Der autoritären Staatsmacht ein „Schnippchen“ geschlagen zu haben, relativiert den Respekt vor ihr.

 

Lebenslauf: Karim Saab

  • geb. 1961 in Heidelberg
  • Übersiedlung der Mutter nach Radebeul 1965 / 66
  • 1977 Buchhändlerlehre in Leipzig
  • Musikedition Peters für 13 Monate
  • Museum für Völkerkunde
  • Theologiestudium in Naumburg
  • Anfang der 1980er Gründung von Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“
  • Totalverweigerung des Militärdienstes
  • Herausgeber des Samisdat „Anschlag“
  • Mai 1989 Ausreise in die Bundesrepublik
  • Seit 1992 Journalist in Potsdam

 


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