Alle Artikel, Audios und Videos zu Ungarn.
Ungarn vollzieht eine Entwicklung vom „besten Schüler Stalins“ zum Vorreiter der Liberalisierung im Ostblock.
Traumatisch ist die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956. In der Folge versucht die kommunistische Partei, die Ursachen der Unzufriedenheit durch Konsum auszugleichen. Das führt zum sogenannten „Gulaschkommunismus“. Die Forcierung individueller ökonomischer Interessen entpolitisiert die Bevölkerung. Gleichzeitig werden die entstehenden westlichen Kauflandschaften für DDR-Touristen zum „Schaufenster“ und wecken materielle Begehrlichkeiten.
Ungarische Verwaltungseliten vollführen unter dem Druck der wirtschaftlichen Misere und der demokratischen Opposition einen evolutionären Systemwechsel – bis hin zum Fall des „Eisernen Vorhangs“.
Dieses „Loch“ führt im Sommer 1989 zu einer Massenflucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik.
Die deutsche Besatzung und die aktive Teilnahme Ungarns am deutschen Feldzug enden mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Oktober 1944. Im Dezember 1944 wird eine neue provisorische Regierung gebildet, die mit den Alliierten verhandelt. Ab dem 20. Januar 1945 herrscht ein Waffenstillstandsabkommen.
Nach Kriegsende liegt Ungarn im sowjetischen Einflussbereich und untersteht einer sowjetischen Militärverwaltung.
Am 4. November 1945 finden die ersten freien Parlamentswahlen statt. Die Partei der Kleinlandwirte gewinnt die Wahl (57%) und bildet mit den Sozialdemokraten (17,4%) und den Kommunisten (16,9%) eine Koalitionsregierung. Zoltán Tildy wird Ministerpräsident. Nach der Ausrufung der Republik am 1.Februar 1946 wird er ungarischer Staatspräsident und Ferenc Nagy übernimmt als Ministerpräsident die Leitung der Koalitionsregierung.
Zoltán Tildy (links) und Ferenc Nagy (rechts) | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Am 24. August 1947 finden erneut – unter Manipulationsverdacht stehende - Parlamentswahlen statt. Die Kommunistische Partei wird die stärkste Kraft. Nachdem die Regierungsbildung unter dem Kommunisten Mátyás Rákosi scheiterte, wird Layos Dinnyés von der Kleinbauernpartei neuer Ministerpräsident. Zoltán Tildy bleibt zunächst Staatspräsident. Imre Nagy wird Parlamentspräsident
Demonstration zum 1. Mai 1947 in Budapest | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Der politische Kurs orientiert sich von nun an stärker an der Sowjetunion. Die Banken, die Bergwerke, die Schwerindustrie und alle Industriebetriebe mit über 100 Arbeitern werden verstaatlicht. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wird weiter vorangetrieben und damit die wirtschaftliche und politische Macht der bisher einflussreichen Großgrundbesitzer vollends beseitigt.
Am 12. Juni 1948 wird – durch die Vereinigung der Kommunistischen Partei und der Sozialdemokratischen Partei Ungarns - die Ungarische Partei der Werktätigen (MDP) gegründet. Mátyás Rákosi, der sich selbst als „Stalins besten Schüler“ bezeichnet, wird Generalsekretär der MDP und treibt mit Unterstützung des Kremls die Sowjetisierung und Machtergreifung der Kommunisten in Ungarn voran.
Árpád Szakasits (l., Sozialdemokratische Partei) und Mátyás Rákosi (Kommunistische Partei) auf dem „Einigungsparteitag“ | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Bei den Parlamentswahlen am 15. Mai 1949 geht die MDP siegreich hervor. Das neue Parlament verabschiedet eine neue Verfassung, die der sowjetischen aus dem Jahr 1936 nachempfunden ist. Darin ist die führende Rolle der Partei festgeschrieben.
Am 20. August 1949 wird die Volksrepublik Ungarn ausgerufen.
Alle Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten werden verstaatlicht und der Übergang zur Planwirtschaft vorangetrieben.
Im Wesentlichen ist 1949 der Transformationsprozess Ungarns abgeschlossen.
Eheleute Rákosi bei der Wahl | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Schrittweise wird das Mehrparteiensystem abgeschafft und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Auch in Ungarn kommt es zu Schauprozessen gegen Andersdenkende.
Kardinal Józef Mindszenty ist eines der prominentesten Opfer der Schauprozesse im Jahr 1949. Hintergrund des Konflikts ist die Verstaatlichung von privaten und konfessionell geführten Schulen. Mindszenty protestiert dagegen und wird in einem viel beachteten Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. |
Nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 kommt es zu einem Führungswechsel in Moskau und einer allmählichen Änderung des politischen Kurses im Ostblock. Der Hardliner Mátyás Rákosi muss auf Druck der neuen sowjetischen Regierung am 4. Juli 1953 die Ministerpräsidentschaft an Imre Nagy abtreten.
Bereits in seiner Regierungserklärung verkündet Nagy seine neuen Ziele, die eine vorsichtige Liberalisierung und eine Abkehr vom stalinistischen Kurs bedeuten. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wird gestoppt, die Arbeitsnormen gesenkt, der Konsumsektor gefördert. Nagy schafft die Internierungslager ab.
Imre Nagy während seiner Regierungserklärung am 4. Juli 1953 | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Trotz des Zuspruchs der Bevölkerung bleiben die Reformen politisch umstritten. Rákosi, der weiterhin das einflussreiche Amt des Parteichefs inne hat, versucht die neue Regierung zu schwächen.
Der schwelende innerparteiliche Konflikt führt im März 1955 zum vorläufigen Ende der Regierungszeit Nagy. Er wird von Rákosi als „Abweichler“ vorgeführt und im November aus der Partei ausgeschlossen. Der Parteichef kann diesmal auf die Unterstützung der Kreml-Führung bauen, geht dieser doch die Reformpolitik von Nagy ebenfalls zu weit.
Neuer Regierungschef wird András Hegedüs. Mit ihm zusammen betreibt Rákosi eine Restauration des Stalinismus. So wird u.a. die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wieder aufgenommen.
Hegedüs unterzeichnet für Ungarn die Gründungsurkunde des Warschauer Pakts am 14.5.1955 | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
1955 werden zwei internationale Abkommen getroffen, die für die weitere ungarische Entwicklung von großer Bedeutung sind. Sie nähren die Möglichkeit eines unabhängigen Ungarn. Am 15. Mai unterzeichnen die Alliierten des Zweiten Weltkrieges mit Österreich einen Staatsvertrag. Damit wird der Besatzungsstatus aufgehoben. Am 2. Juni einigen sich die Sowjetunion und Jugoslawien in der Belgrader Deklaration. Darin verzichtet die sowjetische Führung auf ihren hegemonialen Anspruch und gesteht Jugoslawien eine eigenständige sozialistische Entwicklung zu. |
Am 23. Oktober organisieren Studenten der Eötvös Loránd Universität in Budapest eine Solidaritätskundgebung für die streikenden Arbeiter in Polen. Sie fordern Entstalinisierung, Demokratisierung und die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Aus dieser Demonstration entwickelt sich ein landesweiter Aufstand.
Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Innerparteiliche Opposition: Mit den Offenbarungen des 20. Parteitages in der Sowjetunion im Februar 1956 über die Verbrechen Stalins gewinnt der reformorientierte Flügel in der ungarischen Staatspartei wieder an Einfluss. Er erhält dabei Zuspruch aus der Bevölkerung. Rákosi muss im Juli sein Amt abgeben und flieht in die Sowjetunion.
Außerparteiliche Opposition: Petöfi-Kreis - Seit Anfang des Jahres 1956 treffen sich kritische Intellektuelle. Die heterogene Gruppe, nach dem ungarischen Revolutionsdichter von 1848 Sándor Petöfi benannt, thematisiert aktuelle Fragen. Protagonisten sind die Philosophen Gábor Tánczos und György Lukácz sowie der Schriftsteller Tibor Déry. Die größte Veranstaltung, die sogenannte Presse-Diskussion am 27. Juni, verfolgen über 6.000 Menschen.
Sowjetische Besatzung: Rákosi – „Stalins bester Schüler“ oder von der Bevölkerung „Kartoffelkopf“ genannt – verkörpert wie kein anderer die gehasste sowjetische Fremdherrschaft. Die Restauration seiner Macht nach 1953 spaltet nicht nur die Partei sondern auch die ungarische Gesellschaft. Es bilden sich nationalistische und antikommunistische Strömungen. |
23. Oktober - Den demonstrierenden Studenten in Budapest schließen sich viele Arbeiter an. Vor dem Rundfunkhaus schießt die Geheimpolizei in die Menge. Es kommt zu den ersten Todesopfern der ungarischen Revolution.
24. Oktober - In Budapest wird der Generalstreik ausgerufen und Imre Nagy erneut als Ministerpräsident eingesetzt. Er soll die Situation beruhigen und ruft die in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen zu Hilfe.
Der Protest breitet sich über das ganze Land aus. Überall werden örtliche Komitees (Revolutionsräte) gebildet.
25. Oktober - Vor dem Parlamentsgebäude schießen sowjetische Truppen und der ungarische Geheimdienst auf Demonstranten. Mehr als 100 Menschen sterben. Die Aufständigen bewaffnen sich mit Hilfe der ungarischen Armee. János Kádár wird neuer Parteichef. Nagy stellt eine neue Regierung auf.
26. Oktober - Große Teile Süd- und Westungarns sind in den Händen der Aufständigen. Damit verfügen sie auch über vier Radiosender. Unterdessen kann sich Nagy nicht gegen die Stalinisten in der kommunistischen Partei durchsetzen. Ein Abrücken der sowjetischen Armee kommt für diese nicht in Frage.
27. Oktober - Während die Reformer weiterhin mit den Stalinisten der Partei ringen, wird auf der Straße bereits ein sozialistisches Gesellschaftsmodell generell in Frage gestellt. Hier geht es nicht mehr um Sowjetkommunismus oder Nationalkommunismus wie in Jugoslawien.
28. Oktober - In einer Regierungserklärung verkündet Nagy einen Befehl, der es den ungarischen Truppen untersagt, auf Aufständige zu schießen. Gleichzeitig habe sich die Sowjetunion entschlossen ihre Truppen aus Budapest abzuziehen. Die Staatssicherheit wird aufgelöst.
Die Auseinandersetzungen gehen im übrigen Land unvermindert weiter. Dabei werden nicht selten örtliche Parteifunktionäre von der Bevölkerung umgebracht.
[„Dieser Gnom ist der Mörder und Verräter des ungarischen Volkes. Hängen ist nicht genug.“]
29. Oktober - Nagy verhandelt mit den kämpfenden Gruppen um die Abgabe der Waffen. Diese wollen aber in die neuen Sicherheitskräfte eingegliedert werden. Die sowjetischen Truppen bekommen den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen. Zum Abzug kommt es allerdings noch nicht.
30. Oktober - Nagy verkündet das Ende des Einparteiensystems und spricht vom freien, demokratischen und unabhängigen Ungarn. Doch die kämpfenden Menschen wollen sich erst auf die neue Regierung einlassen, wenn die sowjetischen Truppen das gesamte Land verlassen haben. Begleiterscheinung ist die Lynchjustiz der Straße.
31. Oktober - Die sowjetischen Panzer verlassen Budapest. Gleichzeitig kommt es zu großen Truppenbewegungen nach Ungarn. Chruschtschow will angesichts der internationalen Lage (Suez-Kanal-Krise) Stärke demonstrieren. Eine Invasion in Ungarn wird hinter verschlossenen Türen in Moskau beschlossen. Nagy vertritt nun endgültig die Interessen der ungarischen Nation und nicht mehr die seiner Partei.
1. November - Angesichts der drohenden sowjetischen Invasion tritt Ungarn aus dem Warschauer Pakt aus und deklariert seine Neutralität. Nagy bittet die UNO um Hilfe. Für die Arbeiterräte ist dies ein deutliches Zeichen, den Generalstreik zu beenden. János Kádár verkündet die Auflösung der alten Staatspartei und die Gründung der Magyar Szocialista Munkáspát (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei – USAP).
2. November - Sowjetische Verbände marschieren weiter Richtung Budapest. Kádár wechselt auf Druck der Sowjets die „Seiten“ und befindet sich in Moskau. Das Leben beginnt sich zu normalisieren. Nagy bildet erneut die Regierung um und stellt sie auf eine breite gesellschaftliche Basis.
3. November - Eine sowjetische Militärdelegation verhandelt mit den Ungarn über einen Truppenabzug. Die Sowjets wollen Zeit gewinnen bis die Vorbereitungen für den Angriff fertig sind. Nagy bemüht sich wiederholt vergebens darum, mit der sowjetischen Führungsspitze direkt in Kontakt zu treten.
In der Nacht zum 4. November beginnt der sowjetische Angriff auf Budapest. In einer Radioansprache gibt Nagy um 5.20 Uhr noch eine Erklärung ab, solange er dazu noch die Möglichkeit hat. (Quelle: archiv.org/ABL)
Im ganzen Land toben Kämpfe zwischen der Zivilbevölkerung und dem sowjetischen Militär. Am 22. November wird Nagy beim Verlassen der jugoslawischen Botschaft verhaftet. Etwa 2.500 Menschen verlieren bei den Kämpfen ihr Leben. Über 200.000 sind auf der Flucht nach Österreich.
Mit Hilfe der Sowjets (Nikita Chruschtschow l.) etabliert János Kádár (r.) eine neue Regierung. Nagy wird ins benachbarte Rumänien verschleppt und 1958 in Budapest gehängt. Insgesamt werden ca. 500 Todesurteile vollstreckt - das letzte im August 1961.
Nikita Chruschtschow (links) und János Kádár (rechts) | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Den Jahren der Repressionen folgt eine gewisse „Befriedung“ der Gesellschaft. Über eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards können die Menschen materiell „ruhiggestellt“ werden. Ebenso bemüht sich das Regime um eine Aussöhnung mit der Intelligenz. Nach und nach werden kleine Freiheiten gewährt, Publikationsverbote teilweise aufgehoben und wissenschaftliches Arbeiten mit weniger staatlichen Schranken möglich.
Eine im März verkündete Amnestie für politische Gefangene ebnet den Weg zur Wiederaufnahme politischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit dem Westen. Ende 1963 kommt es zu offiziellen Kontakten mit Frankreich und Großbritannien.
Obwohl das ungarische Politbüro sich einstimmig gegen eine militärische Lösung des „Prager Frühlings“ ausgesprochen hat, stimmt Kádár einer Beteiligung Ungarns zu. Im Gegensatz zur außenpolitischen Konfrontation kommt es in Ungarn zu einer Versöhnung mit dem Regime. In der Reformdebatte seit Mitte der 1960er Jahre werden Fragen über Wirtschaft und Gesellschaft neu diskutiert.
Der neue Wohlstand bringt die ungarische Wirtschaft bald an Grenzen. Am 1. Januar 1968 tritt ein von Rezsö Nyers und parteilosen Fachleuten ausgearbeiteter Plan in Kraft - der „Neue Ökonomische Mechanismus“. Darin sollen durch marktwirtschaftliche Elemente mehr Effizienz im Bereich der Planung, den Preisen und der Lohnpolitik erreicht werden. Die Reform führt zwar zu einer kurzfristigen Entlastung der Wirtschaft, kann aber keine dauerhafte Stabilisierung bewirken.
Nicht zuletzt durch den massiven Druck von Seiten der DDR wird Ungarn angehalten, seine wirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen des „Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) zu vollziehen. Hintergrund ist neben politisch-ideologischen Aspekten die internationale Energie- und Rohstoffkrise. Alle „Bruderstaaten“ versuchen über Kompensationsgeschäfte innerhalb ihres Wirtschaftsraumes den Weltmarktpreisen zu entgehen. Andererseits ist jeder bemüht, gegen Devisen zu exportieren.
Exportlieferungen aus Ungarn auf der Internationalen Gartenbau Ausstellung (IGA) in Erfurt 1974. Neben „Südfrüchten“ werden die jährlichen Weihnachtsgänse aus Ungarn benötigt. | Quelle: Bundesarchiv, Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Ikarus-Busse gehören zum Export-Programm Ungarns für den RGW. Auf der Leipziger Herbstmesse 1975 werden neue Modelle präsentiert. | Quelle: Bundesarchiv, Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Ungarn verlässt den eingeschlagenen Reformkurs und hebt verschiedene Bestimmungen wieder auf. Der Lebensstandard stagniert. In der Bevölkerung regt sich neue Unzufriedenheit, die nicht wie zuvor mit extensiver staatlicher Subventionspolitik ausgeglichen werden kann.
Begleiterscheinung der Krise ist eine zunehmend wieder repressive Politik. Die in den 1960er Jahren gewährten gesellschaftlichen Freiheiten werden teilweise wieder zurückgenommen.
Die wirtschaftliche Situation entschärft sich nicht wesentlich. Das veranlasst die ungarische Führung ihre Beziehungen zum Westen auszubauen. Am 1. Januar fällt der Visazwang zwischen Österreich und Ungarn. Das gute Verhältnis der beiden Länder bildet die Grundlage für den Ausbau der Kontakte nach Westeuropa.
Es geht um wirtschaftliche Zusammenarbeit beim ersten Staatsbesuch eines ungarischen Parteichefs in der Bundesrepublik im Juli 1977 (r. Bundeskanzler Helmut Schmidt). | Quelle: Bundesarchiv
Westliche Unternehmen bekommen in den Folgejahren Zugang zum ungarischen Markt (Levis, Malboro, Coca-Cola). Trotz des stockenden Wachstums herrscht eine zunehmende Wohlstandsatmosphäre. Völlig neue Konsumwünsche können befriedigt werden.
In der Wissenschaft und der Kultur lockern sich ebenfalls wieder die Zügel. Neue Zeitschriften werden zugelassen und sozialkritische Filme veröffentlicht. Einige Künstler und Wissenschaftler können sogar Stipendien aus dem westlichen Ausland annehmen.
Sogar auf die öffentliche Solidarität mit den Unterzeichnern der Charta 77 in der ČSSR folgt keine staatliche Repression. Dies ermutigt einige der Unterstützer zu weiterem Handeln. Der ungarische Samisdat blüht auf.
Darin werden nicht nur systemkritische Themen behandelt wie Pressezensur, Wirtschaft, unterdrückte Erinnerung. Man setzt sich auch mit Tabuthemen wie Prostitution und Armut oder der Lage der insgesamt 33.000 ungarischen Gastarbeiter in der DDR auseinander.
Aus der Eigendynamik der unterschiedlichen Samisdat-Formate entstehen verschiedene politische Gruppen und Organisationen.
Seit Anfang des Jahres konstituiert sich die größte unabhängige Umweltbewegung der Ostblock-Staaten. Ausgangspunkt ist die Diskussion um das „Staustufenprojekt Gabčikovo-Nagymaros“. Danach soll zwischen dem slowakischen Ort Gabčikovo und dem ungarischen Nagymaros am Donauknie ein 200 Kilometer umfassendes Staustufensystem entstehen. Bereits 1977 wurde das Vorhaben durch die Unterzeichnung des ungarisch-tschechoslowakischen „Staatsvertrags zur gemeinsamen Nutzung der Donau-Energie“ besiegelt. Es müssen dafür verschiedene Stauseen entstehen und ein Teil des Donauhauptarms verlegt werden.
Quelle: Neues Deutschland, 15./16.3.1986
Seit 1983 verschleppt die ungarische Seite das Projekt aus finanziellen Gründen. Im Frühjahr 1984 bekräftigen ungarische Umweltschützer durch eine Unterschriftenaktion die ökologischen Bedenken gegen dieses Mammutprojekt. Aus dem Protest entsteht der „Unabhängige Donau-Kreis“ (Független Duna Kör), der einen starken Rückhalt in der Bevölkerung hat. Trotz der beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten in einer „Volksdemokratie“ beteiligen sich bis November des Jahres ca. 10.000 Ungarn an der Unterschriftenaktion.
In Vorträgen und Publikationen im Selbstverlag sorgt der „Donau-Kreis“ für eine zweite Öffentlichkeit. Die Bewegung wird für ihr Engagement 1985 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Die Aktionen der organisierten Umweltbewegung bilden den Ausgangspunkt für die gesellschaftlichen Veränderungen Ende der 1980er Jahre.
Die Zeitschrift - A Hirmondo - (Der Nachrichtenbote) ist eine der meistgelesenen Untergrundperiodika. | Quelle: Open Society Archive Budapest
Einen Dämpfer erhält die Bewegung 1986. Das Kraftwerk von Nagymaros soll von einem österreichischen Bankenkonsortium finanziert werden und Ungarn zahlt die 570 Mio. D-Mark 20 Jahre lang mit Strom zurück.
Unter dem Einfluss der sowjetischen Reformbestrebungen und der Ablösung der Kádár-Führung im Mai 1988 lebt der Protest neu auf. Das Erscheinen auch kritischer Berichte in der Presse ist nun möglich und Demonstrationen werden staatlich toleriert.
Neue Organisationen, die sich mit dem Donau-Projekt befassen, konstituieren sich und schließen sich zu einem Aktionsbündnis zusammen.
„Nachhaltige Veränderung der politischen Atmosphäre“
Die Berliner Umweltblätter berichten von der Gründung des „Nationalen Umweltschutzvereins Donau“ als „erste landesweite Organisation unabhängiger Umweltschützer in Osteuropa“. (Quelle: ABL)
Durch die Kraftprobe zwischen der Opposition und der Regierung wird das Staustufen-Projekt vom ökologischen Problem zum politischen Diskurs. Der Druck auf die Regierung erhöht sich durch eine neuerliche Unterschriftensammlung für eine Volksabstimmung. Im März 1989 werden dem ungarischen Parlament 140.000 Stimmen vorgelegt. Noch bevor es zu einer Entscheidung kommt, verkündete Ministerpräsident Miklos Németh die Einstellung der Bauarbeiten.
Das Kraftwerksprojekt ist ein "Zeichen eines überholten Modells". Die Entscheidung, den Bau gegen alle ökologische Vernunft durchzuziehen, nennt Nemeth "antidemokratisch".
Die einseitige Kündigung der Verträge von 1977 führt zu einem offenen Konflikt, der 1993 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landet. Eine Einigung zwischen Ungarn und nun der Slowakei ist bis in die Gegenwart nicht zustande gekommen.
Ungarn hat die höchste Pro-Kopf-Verschuldung im gesamten Ostblock. Zwar sind die Schaufenster voll, doch nur noch wenige Ungarn können es sich noch leisten. Das wachsende Staatsdefizit wird mit dem Abbau von Subventionen reduziert. Bei steigenden Preisen müssen viele Ungarn einen zweiten Job annehmen und arbeiten 10 bis 14 Stunden. Weite Teile der Gesellschaft verarmen.
Ein Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise wird in der Gründung von „Joint Venture“ mit West-Firmen gesehen. Diese können in Ungarn billig produzieren und Ungarn kann damit einen Teil des Inlandbedarfs abdecken, ohne zu exportieren und Devisen ausgeben zu müssen.
Symbol dieser neuen Liaison ist der amerikanische Hamburger-Multi. Im Herbst 1987 eröffnet die erste Filiale in Budapest.
Das System „Kádár“ wird von der Wirklichkeit überrollt.
Während der Tagung der Warschauer-Pakt-Staaten im Mai 1987 in Ost-Berlin demonstrieren die „alten Männer“ Geschlossenheit. Alle tragen sich in diesem Zusammenhang in das „Goldene Buch“ der Stadt ein.
Dieses Verharren in alten Mustern befördert auch in Ungarn reformkommunistische Strömungen. Kádárs Machtbasis innerhalb der eigenen Partei schwindet immer mehr.
Einer der wichtigsten Widersacher des Systems „Kádár“ ist das ZK-Mitglied Imre Pozsgay. Seiner Meinung kann die wirtschaftliche Krise nur durch politische Reformen behoben werden. Zwei Jahre später wird er zu den wichtigsten Akteuren bei der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ gehören.
Anders als in Polen, wo Streiks zu radikalen Veränderungen führen, ist es in Ungarn der gesellschaftliche Diskurs durch die sich verbreitenden Bürgerinitiativen, Vereine und Klubs. Die Entwicklung treibt die Staatspartei in die Enge und der kommunistische Reformflügel kann sich durchsetzen.
Auf dem Parteitag im Mai 1988 kommt es zur „Palastrevolution“. Janos Kádár wird auf das Altenteil geschoben und die Reformer übernehmen die Macht. Neuer Parteichef wird Károly Grósz. Die Sowjetunion signalisiert, gegen den ungarischen Reformkurs nicht zu intervenieren.
Grósz (l.) und Gorbatschow | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Der Reformer Imre Pozsgay wird in das Politbüro gewählt. Er vertritt die radikalsten Forderungen: „Die Wurzeln der Probleme in Ungarn liegen nicht in der Wirtschaft, sondern in der Gesellschaft.“ (Die Zeit 22/1988)
Seit dem 1. Januar 1988 besteht für alle Ungarn Reisefreiheit.
Die ungarische Opposition sieht in den Veränderungen jedoch keine Erneuerung sondern den Zerfall der kommunistischen Gesellschaft.
© 2022 Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. | Impressum | Datenschutzerklärung | Social-Media-Datenschutz