Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Verhaftungswelle und internationaler Protest

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Prager Wenzelsplatz | Quelle: ČTKAnfang Januar 1989 kündigen fünf unabhängige Bürgerinitiativen, darunter die Charta 77, für den 15. Januar eine Gedenkveranstaltung auf dem Prager Wenzelsplatz an. Vor 20 Jahren, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, hatte sich der Student Jan Palach in einem Akt der politischen Verzweiflung selbst verbrannt.

Die Staatsmacht ist gewarnt und reagiert: Die Polizei versucht mit 2.000 Einsatzkräften schon in den frühen Morgenstunden des 15. Januar, die angekündigte Gedenkveranstaltung zu verhindern. Der Wenzelsplatz wird abgeriegelt und Mitglieder der veranstaltenden Bürgerinitiativen verhaftet.

Wenzelsplatz 1989
Prager Wenzelsplatz | Quelle: ČTK

Dennoch gelingt es einigen Hundert, auf den Wenzelsplatz vorzudringen und Blumen an der Stelle niederzulegen, wo sich der Student 1969 verbrannte. Zusätzlich ziehen etwa zwölf Demonstrationszüge mit jeweils 50 bis 300 Menschen durch die Straßen.

Wenzelsplatz 1989
Prager Wenzelsplatz | Quelle: ČTK

Am 17. Januar erreicht die Polizeigewalt ihren Höhepunkt. Auf dem Wenzelsplatz werden etwa 3.000 Demonstranten eingekesselt und brutal zusammengeknüppelt. Insgesamt werden 800 Personen in Polizeigewahrsam genommen und 76 von ihnen angeklagt.

Wenzelsplatz 1989
Prager Wenzelsplatz | Quelle: ČTK

Der harte Polizeieinsatz löst internationale Proteste aus, u. a. protestieren die Teilnehmer der gerade in Wien tagenden KSZE und das Europaparlament.
Unbeeindruckt bleiben die Prager Bürger selbst, die in den folgenden Tagen zunächst zu Hunderten, dann zu Tausenden auf den Wenzelsplatz kommen, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Der Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Gummiknüppeln veranlasst den Prager Erzbischof Tomásek dazu, einen scharfen Protest an die Regierung zu formulieren.

Wenzelsplatz 1989
Prager Wenzelsplatz | Quelle: ČTK

Das Grab von Jan Palach, an dem sich am 21. Januar zahlreiche Menschen versammeln wollen, wird durch die Polizei abgeriegelt.

Neues Deutschland vom 22.2.1989Am 19. Januar wird der Regimekritiker Vacláv Havel gemeinsam mit anderen Mitstreitern verhaftet. Am 21. Februar wird der mittlerweile „berühmteste“ Dissident der ČSSR zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt. Dieses Urteil löst eine weltweite Solidaritätswelle aus. So veranstalten u.a. DDR-Oppositionelle im Februar / März zahlreiche Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten. Damit schaffen sie eine Gegenöffentlichkeit für das Unrecht im Nachbarland, das die SED offiziell rechtfertigt.
Auf Druck der internationalen Öffentlichkeit wird Havel im Mai vorzeitig aus der Haft entlassen.

 

Ignoranz und Machtgebaren

Während in Polen am „runden Tisch“ ein gesellschaftlicher Konsens erarbeitet wird und in Ungarn der „Eiserne Vorhang“ fällt, meint man in Prag die Zeit anhalten zu können. Dementsprechend ist man auch auf die Aktionen zum 21. Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings vorbereitet. Am 21. August 1989 demonstrieren wieder ca. 3.000 Menschen in Prag. Gegenüber neuen sowjetischen Signalen einer historischen Neubewertung der Ereignisse von 1968 als eine Invasion zeigt man sich in Prag immun und die Demonstration wird gewaltsam aufgelöst.

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KP-Chef Jakeš begründet den Einsatz so: "Deshalb können wir die Taten dieser Gruppen bei uns nicht tolerieren, die sich um eine Rückkehr zu den Verhältnisse vor dem Februar 1948 bemühen und nicht zögern Terror gegen diejenigen loszubrechen, die ihre antisozialistischen Taten verurteilen.“
(z.n. Radio Praha)

Das Verharren in alten Denk- und Machtstrukturen führt zu einem Fauxpas der besonderen Art. Noch im Oktober 1989 wird eine neue 100-Kronen-Note eingeführt, auf der das Bildnis des Stalinisten Klement Gottwald prangt.

Kam man bereits 1955 mit dem weltgrößten Stalin-Denkmal „etwas“ zu spät, so zeigt sich die KP-Führung mit der Huldigung Gottwalds im Alltag ähnlich ignorant und selbstsicher.

Samtene Revolution

Am 9. November bricht mit dem Fall der Berliner Mauer das SED-Regime in der DDR endgültig zusammen. Doch erst eine Woche später am 17. November beginnt in der ČSSR die sogenannte „samtene Revolution“.
Auslöser ist eine Gedenkveranstaltung an den Mut und die Zivilcourage tschechischer Studenten, die sich im Herbst 1939 den deutschen Besatzern widersetzten:

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Nach tagelangen Studentenprotesten im Zusammenhang mit dem tschechoslowakischen Unabhängigkeitstag vom 28. Oktober 1939 schlossen die Nationalsozialisten am 17. November alle tschechischen Hochschulen. Sie ermordeten neun Studenten und über 2.000 Menschen kamen in das KZ Sachsenhausen. Seit 1941 wird der Tag als „Internationaler Studententag“ begangen. Dieser Widerstandswille gegen die deutschen Besatzer bildet die konstituierende Kraft, zum 50. Jahrestag 1989 auf die Straße zu gehen.

 

Aus dem Gedenken wird schnell ein politischer Protest, an dem sich 15.000 Menschen beteiligen.

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Die Staatsmacht reagiert wieder mit einem brutalen Polizeieinsatz. Etwa 600 Menschen werden verletzt. Doch beflügelt von den Ereignissen in den Nachbarländern, geben die Studenten nicht auf. Sie rufen zu einem unbefristeten Studentenstreik auf, dem sich die Schauspieler der Prager Theater anschließen. (Quelle: ABL)

Als Plattform für die Streikenden gründet sich am 19. November das „Bürgerforum“ (Občanské Fórum - OF) im tschechischen und die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (Verejnosť proti násiliu) im slowakischen Teil der Republik. Das Ziel ist, einen Dialog mit dem Regime herzustellen. Vacláv Havel ist der führende Vertreter des „Bürgerforums“.

Im Laufe der folgenden Tage ergreifen die Demonstrationen und Proteste das ganze Land. Mobilisierend wirkt das Engagement der Symbolfigur des Prager Frühlings, Alexander Dubček. Seine Rückkehr in das öffentliche Leben vermittelt, dass der Prozess der Veränderungen nicht mehr aufzuhalten ist.

 

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ND 30.11.1989

Nach dem jahrelangen Machtkampf gegen die ganze Gesellschaft muss die kommunistische Partei nun aufgeben. Zwar versucht man am 24. November durch personelle Veränderungen noch etwas zu retten, in dem Karel Urbánek zum Parteichef berufen wird. Die Bevölkerung reagiert darauf mit einem landesweiten Generalstreik am 27. November. Die Verhandlungen zwischen dem „Bürgerforum“ und der Regierung beginnen am 28. November und am Tag darauf gibt die KPČ ihren politischen Führungsanspruch auf. Husáks letzte Amtshandlung ist die Ernennung einer „Regierung des nationalen Einverständnisses“ mit dem Kommunisten Marián Čalfa als Ministerpräsident und dem Dissidenten Jiří Dienstbier als Außenminister. Am selben Tag, dem 10. Dezember, tritt auch er zurück.


Husáks Rücktrittsrede in einem Prager „Hostinec“. Quelle: ČTK

 

wandzeitung

 

 

 

 

ein-/ausblenden der Übersetzung der Plakate am Heiligen Wenzel in Prag.



Gestern sind sie in den Streik getreten.

Freiheit – Souveränität – Sozialismus – Demokratie

Polen ist mit Euch

Unterstütze die Studenten – Unterstütze den Frühling

Die Auszubildenden des SOU gehen am 27.11. in den Streik. Unterstützen wir die Studenten! Für das SOU - der Streikrat - SOU = Střední Odborné učiliště – Berufsfachschule

Steht ein für die Forderungen der Studenten! Teplice/Böhmen

Studenten! PF Pilsen ist mit Euch!

Schluss mit der Ein-Parteien-Regierung

Ehrlich und ohne Gewalt!

Privatleute! Wir sind mit Euch und mit dem Bürgerforum!

SOU PSC unterstützt die Studenten mit einem Streik ab dem 27.

Fordert freie Wahlen und die Abschaffung des Monopols der KSC!

Litauen unterstützt Euch!

Wenn der Herrscher selbst ein aufrechter Mann ist, wird alles gutgehen, auch wenn er keine Befehle gibt. Ist er aber kein aufrechter Mann, mag er Befehle geben, so viel er will; sie werden doch nicht befolgt werden. - Konfuzius

 

 

 

  

 Am 28. Dezember wird Alexander Dubček zum Parlamentspräsidenten und am 29. Dezember Vacláv Havel einstimmig zum Staatspräsidenten gewählt.

Vacláv Havel – Der Bürgerpräsident (1936 – 2011)


Havel konnte sich einer in der Politik ungewöhnlichen Popularität erfreuen. Er galt als moralische Autorität und glaubwürdige Persönlichkeit des Landes. "Havel na Hrad!" - "Havel auf die Burg!" hatten die Menschen in den Straßen skandiert. Als Staatspräsident führte er das Land am 5. Juli 1990 zu freien Wahlen. Das neue Parlament bestätigte ihn als Präsident. Bis 2003 hatte er diese Funktion mit einer kurzen Unterbrechung inne.

Trauer Trikolore

Als Vacláv Havel am 18. Dezember 2011 starb, nahmen Menschen aus dem In- und Ausland, Prominente und Privatpersonen, Alte und Junge von ihm Abschied. Wieder war das Reiterdenkmal auf dem Wenzelsplatz Treffpunkt für alle Trauernden. Auch das Gedenkkonzert, u.a. mit der Band „Plastic People of the universe“, wurde auf einer großen Leinwand dahin übertragen.
Dieses persönliche Bedürfnis, einem Staatsmann die letzte Ehre zu erweisen, ist für hiesige Verhältnisse kaum vorstellbar.
Der gesellschaftliche Konsens zur Trauer

 


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