Alle Artikel, Audios und Videos zu Bulgarien.
Am 18. Mai 1971 tritt eine neue bulgarische Verfassung per „Volksentscheid“ in Kraft, die sogenannte „Schiwkow-Verfassung“. In Artikel 1 wird die führende Rolle der kommunistischen Partei festgeschrieben. Weiterhin wird das bis dahin oberste legislative Organ, das Präsidium der Volksversammlung, durch einen Staatsrat ersetzt. Da dieses legislative und exekutive Funktionen übernimmt, schwindet die Bedeutung der Regierung. Zum Vorsitzenden des Staatsrates läßt sich Todor Schiwkow wählen, der das Amt des Regierungschefs an Stanko Todorov abgibt.
Die neue Verfassung verstärkt auch den Assimilierungsdruck. Nationale Minderheiten werden im Einzelnen nicht mehr anerkannt. Stattdessen ist von „Bürgern nichtbulgarischer Herkunft“ die Rede.
Bereits im Jahr zuvor begann eine zweite Kampagne zur Änderung der Namen für Pomaken. Hintergrund ist ein bulgarisch-türkisches Abkommen von 1969 über die Zusammenführung von Familien. Die Partei will verhindern, dass auch Pomaken das Land verlassen können. Wie 1962 setzt man auf Freiwilligkeit. Doch nun wird jeglicher Widerstand unterbunden – bis hin zu Haftstrafen.
Auf der Gefängnisinsel Belenen sind 1979 allein 500 Pomaken interniert, die sich der Bulgarisierung ihrer Namen verweigert haben.
Der Druck auf die Pomaken wird erhöht. Sie müssen sich u.a. neue Ausweispapiere ausstellen lassen.
Bis auf Albanien unterschreiben alle sozialistischen Länder Europas am 1. August die Schlussakte von Helsinki. Es werden Leitlinien zur Verbesserung der sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und humanitären Beziehungen aufgestellt. (Quelle: net-film)
So verpflichten sich die Unterzeichner u.a. zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dieser Passus bildet die Grundlage osteuropäischer Menschenrechtsgruppen, die nun die jeweiligen Regime in die Pflicht nehmen.
Die Nachfolgekonferenzen des KSZE-Prozesses liefern Ende der 1980er Jahre wichtige Impulse für bulgarische Menschenrechtskativisten.
Im Juli 1978 erhalten westliche Zeitungen und Radiostationen Kopien eines Dokumentes, genannt die „Deklaration 78“. Eine anonyme Gruppe von Dissidenten aus Bulgarien, die sich „ARD“ nennt, erhebt sechs Forderungen zur Verbesserung der Situation in ihrem Land. In dem Manifest fordern sie das Ende der Menschenrechtsverletzungen, Religionsfreiheit, Abschaffung der Pressezensur, freie Gewerkschaften und das Recht auf Auswanderung. (Quelle: Spiegel 9.10.1978)
Kurze Zeit später wagen Regimegegner sogar eine Demonstration auf dem Platz der Nationalversammlung in Sofia. Sie entrollen ein Transparent mit der Aufschrift „Nieder mit dem Kommunismus“ und verteilen Flugblätter.
Exil-Bulgaren, die das Schiwkow-Regime öffentlich kritisieren, müssen den „langen Arm“ des bulgarischen Geheimdienstes („Derschwawna Segurnost“) fürchten. Kidnappte man diese Menschen bisher in den Exilländern, um ihnen in Bulgarien den Prozess zu machen, so mordet der Geheimdienst mit technischer Unterstützung des sowjetischen KGB nun im Ausland.
Berühmtestes Beispiel ist das Attentat auf den Schriftsteller Georgi Markov.
Der „Regenschirm-Mord“ von London
Georgi Markov ist einer der bekanntesten bulgarischen Schriftsteller der 1960er Jahre. Er wird sogar zu Jagdausflügen mit Schiwkow eingeladen. Seine Kenntnisse vom „inner circle“ der Macht werden ihm letztlich zum Verhängnis.
Im Juni 1969 verlässt er das Land, nachdem die staatliche Zensur einen Roman und ein Theaterstück von ihm verbietet. Markov wird als "Verräter" gebrandmarkt und in Abwesenheit zu sechs Jahren Haft verurteilt.
Seit 1971 arbeitet er in London als Schriftsteller und Journalist für die BBC sowie für Radio Free Europa (RFE) in München.
So strahlte RFE 1977/78 in 11 Sendungen Markovs Reihe „Persönliche Treffen mit Todor Schiwkow“ aus. Darin wird Schiwkow das Ziel beißender Satire.
Am 7. September 1978, dem Geburtstag des bulgarischen Staatschefs, wird Markov wie im Krimi ermordet:
An einer Londoner Bushaltestelle rempelt ihn ein Mann aus der Menschenmenge mit einem präparierten Regenschirm an. Der Unbekannte verschwindet und Markov verspürt im rechten Oberschenkel einen stechenden Schmerz. Vier Tage später stirbt er. Eine Obduktion ergibt, dass Markow mit einer winzigen mit Rizin gefüllten Kugel vergiftet wurde.
Bis in die Gegenwart hat die bulgarische Staatsanwaltschaft kein Interesse an der Aufklärung des Mordes.
Der vermutliche Organisator des Attentats ist Innenminister Dimityr Stojanow. Er erklärt am 15. September 1978 im bulgarischen Fernsehen:
„Unsere Feinde sind vor unserem Zugriff nirgendwo sicher. Die Konterrevolution muss wissen, dass es für sie keine sicheren Refugien gibt.“
Auch im Inland geht das Regime hart gegen Kritiker vor: 1979 wird z.B. Ilja Minew wegen eines Briefes, den er an den US-amerikanischen Präsidenten und die UN-Kommission für Menschenrechte schickt, zu 5 Jahren Haft verurteilt. Kurze Zeit später verurteilt man auch seine Frau zu einem Jahr, weil sie ohne Erlaubnis ihr Dorf verließ.
Schon für die Kritik an der schlechten Versorgungslage gibt es Haftstrafen. Viele politische Gefangene sitzen im Arbeitslager Belene oder in Stara Zagora ein. Wer einmal aus politischen Gründen bestraft wurde, kann auch nach seiner Entlassung jederzeit verbannt werden.
Am 19. Juni 1984 trifft die bulgarische Parteiführung den Beschluss, die türkische Minderheit im Land gewaltsam zu „bulgarisieren“.
Türkisch klingende Namen in den Personalausweisen werden slawisiert, der Gebrauch der türkischen Sprache in der Öffentlichkeit verboten, zahlreiche Moscheen geschlossen, religiöse Bräuche verboten. Auf den Friedhöfen werden selbst die Namen der Verstorbenen auf den Grabsteinen geändert.
Für die Umsetzung des Parteibeschlusses besetzen bewaffnete Polizisten die Dörfer und zwingen die Menschen zum Rathaus, wo ihnen die neuen Ausweise ausgehändigt werden. Die Auswahl der Namen erfolgt wahllos. Aus dem slawisierten Vornamen des Vaters wird der neue Nachname gebildet. Da es für viele türkische Vornamen keine Entsprechung gibt, passiert es leicht, dass in unterschiedlichen Dörfern lebende Familienmitglieder unterschiedliche Nachnamen erhalten. In einem Dorf wird aus Mehmet „Milan“ in einem anderen „Martin“. Entsprechend ergibt sich für den Nachnamen der verwandten Kinder dann „Milanov/a“ oder „Martinov/a“.
Erfolgreiche Bulgarisierung - Propagandafoto von türkischen Kindern, Varna 1986 | Quelle: lostbulgaria
Ohne Reaktion bleibt das Vorgehen bei der bulgarischen Bevölkerung. Diese ist durch die staatliche Propaganda zum Großteil davon überzeugt, dass die türkische Minderheit eine Gefahr für Bulgarien darstellt. Die Propaganda schürt türkische Autonomiebestrebungen, a la Zypern, die von der Türkei unterstützt werden. Mit der Schaffung von „Ängsten“ gelingt es der Partei gleichzeitig, von den schlechten Lebensbedingungen abzulenken.
Der enorme Druck auf die türkische Minderheit hat jedoch nicht den beabsichtigten Effekt. In vielen türkischen Familien leben nun längst vergessene Bräuche wieder auf: Man bemüht sich um die türkische Sprache und interessierte sich wieder für den islamischen Glauben.
Als unmittelbare Reaktion erschüttern zwei Sprengstoffanschläge das Land
Varna 1980er Jahre; Quelle: lostbulgaria | Plovdiv 1980er Jahre; Quelle: lostbulgaria |
Am 30. August 1984 explodiert eine Bombe auf dem Parkplatz des Flughafens von Varna, eine halbe Stunde später eine weitere im Wartesaal des Bahnhofs in Plovdiv. In Plovdiv kommt ein Mensch ums Leben, 42 weitere werden verletzt. Staatschef Schiwkow soll an diesem Tag beide Städte besuchen. Die Anschläge werden der türkischen Minderheit zugeschrieben.
Am 27. Dezember 1984 protestieren tausende bulgarische Türken vor den Rathäusern in Momchilgrad und in Bekonvski.
Die Polizei feuert in die Menge, es gibt Tote und Verletzte. Zahlreiche Personen werden verhaftet und in Belene inhaftiert.
Am 9. März 1985 explodiert nahe dem Bahnhof von Bunowo eine Bombe im Zug von Sofia nach Varna. Unter den sieben Toten sind auch drei Kinder. Auch dieser Anschlag wird in Zusammenhang mit der Assimilierungspolitik gebracht. 1988 werden dafür drei Türken aus Burgas zum Tode verurteilt.
Im Juli 1985 gründet sich die „Türkische Nationale Befreiungsbewegung in Bulgarien“. Man versucht vor allem, die Weltöffentlichkeit, die von den Vorgängen in Bulgarien kaum Notiz nimmt, zu informieren. Dafür bedient man sich vor allem des Senders Radio Free Europe.
Naim Suleimanow → Naum Schalamanow
Die westliche Öffentlichkeit nimmt von der Zwangsbulgarisierung kaum Notiz, bis die Maßnahmen durch international bekannte Sportler publik werden. Der bekannteste ist der Gewichtheber Naim Suleimanow.
Er startet künftig unter dem Namen Naim Süleymanoğlu für die Türkei. Zwischen 1988 und 1996 wird er dreimal Olympiasieger.
Bulgarische oppositionelle Bewegungen sind in den 1980er Jahren sehr schwach. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der in den anderen mittelosteuropäischen Ländern. Mit einem Anteil von mehr als 10% Parteimitgliedern an der Gesamtbevölkerung (DDR: 13,5%) hat die kommunistische Partei einen großen Einfluss.
Erst in den Jahren 1988/89 gründen sich verschiedene informelle Organisationen, denen es vorrangig um die Erneuerung der Gesellschaft geht. Konflikte mit dem System ergeben sich oft über Umweltprobleme.
Am 10. Februar 1988 findet in Russe eine erste Demonstration gegen das Regime statt, als Mütter mit Kinderwagen durch die Stadt marschieren. Sie protestieren gegen die Umweltbelastung durch das auf der anderen Donauseite gelegene Chemiewerk im rumänischen Giurgiu und die Untätigkeit der eigenen Regierung bei der Lösung des Konflikts.
Quelle: Umweltblätter 4/1988
Einen wichtigen Beitrag beim Zerfall des Regimes bildet der Widerstand der bulgarischen Türken und Pomaken. Auch sie gründen verschiedene Menschenrechtsorganisationen:
Diese Organisationen erfahren aktive Unterstützung von bulgarischen Gruppen mit dem Ziel der Demokratisierung.
Mit Hungerstreiks und Demonstrationen wehren sich die Minderheiten gegen die Bulgarisierung. Im Mai 1989 kommt es in Nordostbulgarien zu den größten Demonstrationen mit 25-30.000 Teilnehmern. Die Konfrontation mit der Polizei fordert 9 Menschenleben und viele Verletzte.
Das Regime reagiert darauf mit Abschiebung und Aufhebung des Ausreiseverbots. Die Grenzen zur Türkei werden geöffnet.
Am 30. Mai 1989 beginnt der „große Ausflug“, wie der Exodus ethnischer Türken genannt wird. Als die Türkei das Flüchtlingsproblem nicht mehr bewältigt, werden am 21. August 1989 die bulgarischen Grenzen geschlossen.
In diesen knapp drei Monaten verlassen etwa 370.000 Menschen Bulgarien.
Die erzwungene Massenausbürgerung führt zu einer sozialen und wirtschaftlichen Destabilisierung Bulgariens. Das internationale Ansehen des Landes nimmt erheblichen Schaden. |
Ab Ende Juli 1989 nehmen sich die Medien die Freiheit über die Unabhängigkeitsbewegungen in Ungarn, Polen und im Baltikum zu berichten. Das Informationsmonopol der kommunistischen Partei wird dadurch gebrochen, indem sich die Menschen Satelliten-Anlagen montieren und jetzt internationale Sender auf Bulgarisch sehen und hören können (Deutsche Welle, BBC, Radio Free Europe).
Seit dem 14. Oktober 1989 sammeln Aktivisten von Ekoglasnost Unterschriften gegen ein Staudammprojekt („Rila-Mesta“) im Rila-Gebirge. Trotz massiver Übergriffe durch die Polizei kommen über 11.000 Unterschriften zusammen.
Blick vom Musala (2925m) – dem höchsten Berg im Rila-Gebirge | Quelle: lostbulgaria
Am 9.November fällt die Berliner Mauer. Die bulgarischen Medien bringen nichts darüber. In Absprache mit Moskau kommt es einen Tag später zum „Putsch“ des Zentralkomitees und dem „stillen“ Sturz Schiwkows.
Quelle: lostbulgaria
Petar Mladenow (l.), seit 1971 Außenminister und seit Jahrzehnten Parteikader, verliest am 10. November 1989 die Absetzungserklärung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Damit wird Schiwkow (r.) zum Rücktritt gezwungen. Mladenow wird neuer Generalsekretär der Partei und Vorsitzender des Staatsrates.
Beide Ämter werden im April 1990 abgeschafft und Mladenow wird Staatspräsident.
Die alten kommunistischen Eliten steuern die Demokratisierung Bulgariens.
Quelle: lostbulgaria
Leipzig, Januar 1990 | Quelle: ABL / B. Heinze
In Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei und der DDR wurde der politische Umsturz von einer breiten Bewegung getragen. Unmittelbar nach der Zerschlagung ihrer Systeme begann hier die Aufarbeitung der Vergangenheit.
In Bulgarien blieb ein solcher Prozess nahezu vollständig aus.
Zwar führten die Demonstrationen 1989 und 1990 auch in Bulgarien zu einem Systemwandel, jedoch nicht zum Austausch der politischen Elite. De facto regierte die Kommunistische Partei Bulgariens, ab April 1990 unter dem Namen „Bulgarische Sozialistische Partei“ (BSP), das Land in verschiedenen Koalitionen weiter. Die personelle Verstrickung vieler Amtsträger mit der Staatssicherheit im kommunistischen Bulgarien führte dazu, dass viele Aktenbestände vernichtet bzw. Einsichtnahmen und damit Aufarbeitung verhindert wurden.
300.000 Bulgaren waren in irgendeiner Form für den Geheimdienst tätig, d.h. auf 26 Menschen kommt einer von der Staatssicherheit (Albanien 28:1, DDR 63:1).
Erst die seit 2004 geführten EU-Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und der Beitritt 2007 brachten Bewegung in den Umgang des Landes mit seiner Geschichte.
Im Oktober 2012 (!) wird die erste Ausstellung, die sich mit dem kommunistischen Bulgarien kritisch auseinandersetzt im Staatsarchiv Sofia eröffnet. Die zweisprachige Wanderausstellung ist auch in Deutschland zu sehen. |
© 2022 Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. | Impressum | Datenschutzerklärung | Social-Media-Datenschutz